Elfenblut
der die Tasche mit den Drogen und der gebündelten Million von der Schulter genommen hatte und irgendwie versuchte, sich das riesige Tier damit vom Leib zu halten. Der andere Vogel machte kreischend und mit peitschenden Schwingen Jagd auf Hernandez’ dritten Mann, der zumindest im Moment vergessen zu haben schien, dass er achtzig Kilo schwerer war als das Tier und außerdem bewaffnet.
Sosehr ein Teil von ihr den Anblick genoss, war Pia zugleich klar, wie schnell sich das Blatt wenden konnte. Irgendwann würde sich einer der Männer darauf besinnen, dass er eine Waffe hatte …
»Weg hier!«, schrie sie. »Schnell!«
Jesus grunzte zustimmend, legte ihr beschützend die Hand auf die Schulter – und tat etwas ziemlich Verrücktes.
Statt loszurennen, stürmte er in die entgegengesetzte Richtung, entriss dem Schläger den Leinenbeutel und versetzte ihm zusätzlich einen Stoß, der ihn zwei Schritte zurücktaumeln und dann schwer auf den Rücken fallen ließ. Der Rabe stieß ein fast triumphierend klingendes Kreischen aus, stürzte sich auf ihn und machte sich mit Schnabel und Klauen an seinem Gesicht zu schaffen, und Jesus fuhr herum und nutzte den Rückweg, um Hernandez eine Kopfnuss zu verpassen, die ihn endgültig nach vorne und mit dem Gesicht in den Schlamm schleuderte.
»Nichts wie weg hier!«, brüllte er, packte Pia grob am Arm und schleifte sie einfach mit sich. Mit fünf, sechs gewaltigen Schritten war er beim Tor und sprengte es einfach mit einem Fußtritt auf, raste nach links, und erst nach einem halben Dutzend weiterer Schritte gelang es ihr überhaupt, halbwegs wieder zu sich zu kommen und sich loszureißen.
Schwer atmend blieb sie stehen, lehnte sich mit den Schultern gegen eine Wand und wartete darauf, dass die Welt aufhörte, sich wie ein außer Kontrolle geratenes Kettenkarussell um sie zu drehen. Hinter ihnen gellten noch immer Schreie durch die Nacht, und darunter war ein aggressives Krächzen zu hören; und ein Geräusch wie das Schlagen gewaltiger schwarzer Schwingen. Irgendetwas stimmte immer noch nicht mit den Schatten, und sie konnte immer noch nicht sagen, was.
»Was … was war das denn?«, keuchte Jesus. »Ist … ist das gerade wirklich passiert?«
Pia hätte eine Menge dafür gegeben, diese Frage beantworten zu können. Alles war … unwirklich. Und zugleich auf eine schon beinahe schmerzhaft intensive Art real. Die Schatten waren zu tief, das Licht zu grell und alle Geräusche zu laut, als wäre sie in einem Teil der Welt gestrandet, in dem alles hundertmal intensiver und aufdringlicher war … oder ihre Sinne plötzlich sehr viel schärfer geworden.
Hinter ihnen peitschte ein einzelner Schuss durch die Nacht, gefolgt vom schrillen Schrei eines Vogels, der gleichermaßen wütend wie schmerzerfüllt klang, und das Geräusch riss sie abrupt in die Wirklichkeit zurück, die für ihren Geschmack selbst genug von einem Albtraum hatte.
Die Schüsse waren nicht ungehört geblieben. Die Musik in der Cantina war verstummt, und vor dem Eingang zeichneten sich die schattenhaften Umrisse eines Dutzends Männer ab, die herausgelaufen waren und aufgeregt in ihre Richtung gestikulierten. Stimmen schrien durcheinander. Das unverwechselbare Geräusch sorgte dafür, dass niemand wagte näher zu kommen, aber Pia war sich schmerzhaft der Tatsache bewusst, dass sie trotz der Dunkelheit deutlich zu sehen – und zu erkennen! – sein mussten. Jesus’ Anzug war zwar mittlerweile mehr schlammbraun als weiß (dasselbe galt für sein Gesicht), aber das verbliebene Weiß leuchtete wie ein Nylonhemd in einer Disco, und auch ihre schlanke Gestalt war vermutlich unverkennbar. Ganz genau das, was Hernandez sich wahrscheinlich gewünscht hatte, dachte sie zornig. Die Männer da drüben hatten Schüsse und Schreie gehört, und jetzt sahen sie sie davonlaufen, mit einer sichtlich schweren Tasche im Gepäck. Wunderbar. Sie hätte das Schrotgewehr doch mitnehmen sollen, und sei es nur, um sich gleich selbst damit in den Kopf zu schießen …
»Weiter!«, befahl sie.
Jesus wischte sich den Rest Schlamm aus dem Gesicht und rückte den Beutel auf seiner Schulter zurecht, setzte sich dann aber gehorsam in Bewegung. Sie überquerten die Straße, hielten instinktiv auf die tiefsten Schatten zu und rannten noch ein kurzes Stück, bevor sie die ersten heruntergekommenen Hütten erreichten und in eine der schmalen Gassen schlüpften.
III
N ach dem Geschrei und dem Lärm und den Schüssen kam ihr die Stille schon
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