Elfenblut
Legende. Um ehrlich zu sein, hätte ich bis letzte Nacht nicht geglaubt, dass es jemanden wie dich überhaupt gibt. Aber die Welt ist groß und steckt anscheinend nicht nur voller Wunder und Gefahren, sondern auch immer wieder voller Überraschungen.«
Pia nickte zustimmend – das konnte er laut sagen –, aber sie machte auch eine kleine, ungeduldige Geste, fortzufahren.
»Nun, Pia«, sagte Brack, als müsse er sich selbst zur Ordnung gemahnen. »Es ist nur eine Geschichte, so alt, dass niemand mehr weiß, wer sie zuerst erzählt hat. Eine Geschichte aus der Zeit der Elfenkriege.«
»Elfenkriege?« Pia riss erstaunt die Augen auf, bemerkte Alicas ratlosen Blick und übersetzte mit knappen Worten, was Brack gesagt hatte. Brack geduldete sich, bis sie fertig war, und das tat er auch während des Rests der Geschichte, bei dem Pia in unregelmäßigen Abständen genauso verfuhr.
»Eine alte Geschichte«, wiederholte Brack. »Man sagt, sie wäre noch älter als der Turm des Hochkönigs.«
»Anscheinend gibt es hier eine Menge alter Geschichten«, sagte Pia. Elfenkriege? Dieses Wort hatte er vorhin schon einmal benutzt, und es kam ihr jetzt so unwirklich und zugleich so vertraut vor wie beim ersten Mal.
»O ja, die gibt es«, bestätigte Brack mit einem sonderbaren, fast wehleidigen Lächeln. »Wir leben in einer harten Welt, und das Leben der Menschen ist noch härter. Was soll ihnen den Alltag erträglich machen, wenn nicht Geschichten von einer anderen Zeit und vielleicht einem besseren Leben?«
Pia übersetzte, und Brack geduldete sich, anscheinend sogar froh, sich sammeln zu können, bevor er fortfuhr.
»Es soll sich vor der Zeit der Hochkönige zugetragen haben. Unser Land lag im Krieg mit den Elfen, einem ebenso grausamen wie hochmütigen Volk magisch begabter Wesen, die auf ihren lebenden Schiffen über den großen Ozean gekommen sind, um das Land zu unterjochen und den Menschen ihre Seelen zu rauben.«
»Aber nicht die Elfen von dem Schild überm Eingang zum Elfenturm, oder?«, fragte Alica, nachdem Pia übersetzt – oder, um genauer zu sein, Bracks Worte Buchstabe für Buchstabe wiederholt – hatte.
Brack lachte. »Nein. Gewiss nicht. Obwohl …«
»Obwohl?«, wiederholte Pia, als Brack nicht weitersprach.
»Der Name kommt schon aus dieser Zeit«, sagte er. »Die Menschen hier neigen dazu, sich über Dinge lustig zu machen, die sie im Grunde doch zu Tode erschrecken sollten.«
»Nicht nur bei euch«, sagte Pia.
»Vielleicht muss das so sein, wollen sie nicht an diesem Schrecken zerbrechen«, sagte Brack. »Der Krieg währte lange, wie die Legende behauptet, über viele Generationen. Keine Seite konnte den endgültigen Sieg erringen. Die Elfen waren ein Volk gewaltiger Krieger und noch mächtigerer Zauberer, doch auch unsere Männer waren tapfer, unsere Zauberer stark, und so wogte der Kampf hin und her. Über unzählige Jahre brachte er Leid und Tod über die Menschen unserer Welt, und Feuer und Vernichtung über ihre Städte und Burgen. Und vielleicht wäre es weitere tausend Jahre so geblieben, und unsere beiden Welten hätten sich in einem endlosen Krieg gegenseitig zerfleischt …«
»Wäre Gaylen nicht gewesen«, vermutete Pia.
»Wäre Gaylen nicht gewesen«, bestätigte Brack. »Wenn auch ganz gewiss nicht absichtlich. Das Kriegsglück, so berichtet die Legende, begann sich zu wenden, als sich ein Stamm abtrünniger Elfen auf unsere Seite schlug.« Er deutete zum Fenster. »Aus ihrem Geschlecht ging der erste Hochkönig hervor. Sie waren es, die den Turm erbauten. Und zugleich andere Festungen, überall im Land.«
»Und Gaylen war eine von ihnen?«, vermutete Pia.
»Ein Dunkelelf?« Brack schüttelte den Kopf. »O nein. Ganz im Gegenteil. Es war den Elfen trotz allem zuwider, Krieg gegen ihre Brüder und Schwestern zu führen, also sandten sie ihre mächtigste Zauberin aus. Prinzessin Gaylen.«
»Prinzessin?«, wiederholte Pia.
»Wie gesagt: Die Elfen waren ein Volk gewaltiger Magier. Und Prinzessin Gaylen war ihre mächtigste Magierin. Sie allein wäre stark genug gewesen, den Hochkönig und vielleicht sogar das ganze Volk der Dunkelelfen auszulöschen, doch sie kam in Frieden, um zu verhandeln, nicht um zu töten.«
»Und was ist geschehen?«, fragte Pia.
»Sie wurde getäuscht. Der Hochkönig empfing sie in Frieden, wie es schien, doch in Wahrheit stellte er ihr eine Falle, die sie all ihrer magischen Kräfte beraubte; und um sie noch weiter zu demütigen und dem Volk der Elfen
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