Elfenkind
Gefühle und Gedanken aufhören und alles wieder seinen gewohnten Gang gehen. Das hoffte sie zumindest. Aber im Moment fiel es ihr noch wirklich schwer, sich das vorzustellen. Es fühlte sich eher so an, als würde sie niemals wieder ein normales Leben führen.
12
Wie schon viele Male zuvor materialisierte Frédéric sich geräuschlos hinter dem Vorhang. Aliénor saß auf ihrem Bett und schrieb in ihr Tagebuch. In Gedanken versunken knabberte sie auf dem Ende ihres Kugelschreibers herum.
Bevor er zum ersten Mal ihr Zimmer betreten hatte, hatte er eher ein typisch pastellfarbenes Mädchenzimmer erwartet. Rosa, Apricot, eventuell auch ein frisches Lindgrün, doch stattdessen war die Wand an der Stirnseite ihres Bettes mit jugendstilartig stilisierten riesigen dunkelroten Rosen tapeziert, die anderen Wände mit einer dazu passenden antik wirkenden Tapete mit weinroten und goldenen Streifen. Es war ungewöhnlich und hatte ihn überrascht, aber es gefiel ihm und bewies darüber hinaus ein weiteres Mal, dass mehr hinter ihr steckte, als man auf den ersten Blick vermuten würde.
Den Boden zierte ein dunkelroter Veloursteppich. Zusammen mit den schwarzen, modernen Möbeln bildete er einen stilistischen, aber nicht unangenehmen Kontrast zum Rest. In einem schweren goldenen Barockrahmen war ein Kristallspiegel mit geschliffenen Kanten eingesetzt.
Sie schien nicht zu wissen, dass man in Schlafzimmern keine Spiegel aufhängen sollte, weil diese den Schlaf störten und Unglück brachten. Die Geister hinter den Spiegeln erhielten des Nachts Einblick in das Leben und die Gedankenwelt des Bewohners. War man psychisch zu schwach, konnte es sein, dass sie die Kontrolle übernahmen, ihre einzige Möglichkeit, die Geisterwelt zu verlassen und in die Welt der Lebenden einzudringen.
Mit einem tiefen Atemzug sog Frédéric Aliénors Duft ein, der von einer einzigartigen Süße war. Dabei gar nicht schwer, sondern leicht, frisch und unerwartet sinnlich. Menschlich und auch weiblich. Und noch etwas anderes. Er runzelte die Stirn, sog erneut die Luft ein, konnte es aber nach wie vor nicht einordnen. Irgendetwas geschah mit ihr, irgendetwas Mystisches, aber es blieb ihm weiterhin unklar, was genau es war.
Ihre Empfindungen und ihr Körper waren in Aufruhr. Das war für ihn spürbar. Es hatte nicht nur mit dem Schrecklichen zu tun, das sie erlebt hatte. Das Problem lag noch tiefer, war viel elementarer und machte ihn neugierigEr redete sich ein, dass das der einzige Grund war, warum er fast jeden Abend heimlich nach ihr sah. Dass er ergründen wollte, was dahinter steckte. Die Wahrheit war jedoch viel einfacher, auch wenn er sich noch immer standhaft weigerte, es sich einzugestehen: Er musste sie einfach sehen.
Ohne dass dieses Mädchen es wollte und ohne dass sie es wusste, hatte sie etwas in ihm berührt. Es wäre klüger, sich zurückzuziehen und sie zu vergessen. Aber er konnte es nicht.
Aliénor schaute in seine Richtung. Wäre er sich nicht hundertprozentig sicher gewesen, aufgrund seiner dunklen Kleidung mit Vorhang und Hintergrund zu verschmelzen, so hätte er geglaubt, sie blicke ihn direkt an. Mit diesen eigenartigen Augen, blaugrün wie ein Bergsee.
Sie schien angestrengt über etwas nachzudenken. Ihr Gesicht war blass und unter ihren vom Weinen geröteten Augen lagen dunkle Schatten. Der Verlust der Freunde hatte Spuren hinterlassen. Er ertappte sich dabei, dass er beinahe zu ihr geeilt wäre und sie tröstend in seine Arme gezogen hätte.
Er zuckte zusammen und rief sich streng zur Ordnung. Er musste vollkommen verrückt sein. Nur weil er in ihre Erinnerungen eingedrungen war, hatte er noch lange kein Recht hier zu sein. Er sollte im Gegenteil sofort gehen und nie wiederkommen.
Jede Nacht kam er zu diesem Schluss, zu dem Schluss, dass er sie nie wieder sehen dürfte, und doch kam er immer wieder. Sein ganzer Körper vibrierte unter der Anspannung der Entscheidung, zu bleiben oder zu gehen, genauso unfähig zum einen wie zum anderen.
Sie stand auf und setzte sich an ihren Schreibtisch. Dort schrieb sie weiter, unermüdlich, Zeile um Zeile. Ihre Hand glitt schneller als zuvor über das Papier, als hätte sie Angst, Gedanken zu verlieren, bevor sie niedergeschrieben waren. Zu gerne hätte er gewusst, was sie so dringend festhalten musste, aber es war zu riskant, wieder in ihre Gedanken einzudringen. Vermutlich würde sie es sogar bemerken. Er wusste sonst von keinem Menschen, der über so starke telepathische Kräfte
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