Elfenkrieg
ihr eine Haarsträhne zurück und näherte sich langsam ihren Lippen.
»Ich kann nicht im Schloss leben«, antwortete sie schnell und wich kaum merklich ein Stück zurück. »Mein Platz ist bei meiner Mutter.«
Daeron seufzte. »Dein Platz ist bei mir, Vinae. Komm zu mir.«
Jedes seiner Worte war wie Gift, kroch als eiskalter Schauer ihren Rücken hinab. »Ich kann nicht«, sagte sie, so sanft es ihr nur möglich war. »Ich möchte dem Tempel in Averdun beitreten. Ihr wisst das.« Sie drehte sich um, damit er ihr nicht noch näher kommen konnte, doch Daeron hielt sie am Arm fest. Ihm gefielen ihre Pläne nicht. Die Priesterinnen von Averdun waren allesamt mächtige Magierinnen und hofften dadurch auf Vinaes Unterstützung. Sie versuchten – genauso wie Vinae hier in Acre –, das Leid, das die Fürsten unter die Leute brachten, zu lindern. In keinem anderen Fürstentum wurden die Orakel – die Stimmen des Schicksals – so häufig aufgesuchtwie im Sonnental. Die Elfen suchten nach Trost und einem Wegweiser. Gleichzeitig benötigten sie die heilenden Kräfte der Priesterinnen. Mit ihrem einhundertsten Geburtstag würde Vinae in den Tempel gehen, fort von ihrer Mutter und den Fürstenbrüdern. Sie würde das tun, was sie am besten konnte und was leider auch am nötigsten war: helfen. Eine Zukunft, die Daeron für sie so nicht geplant hatte.
»Wir haben uns doch verstanden«, sagte er kalt und zog sie mit einem Ruck näher an sich, so dass sein Gesicht so nahe war, um den Atem auf der Haut zu spüren. »Du gehst nicht mehr zurück in den Kerker, Vinae. Nie wieder! Du wirst dich nie wieder gegen mich oder meinen Bruder stellen, hast du verstanden?«
Vinae funkelte ihn wütend an. Sie kannte diese Worte, hörte sie nicht zum ersten Mal, und so versuchte sie sich loszureißen, doch Daeron hielt ihren Arm fest umklammert. »Die Arbeiter, draußen im Dorf.« Er sah sie mit den honigfarbenen Augen an. »Es wäre doch schade, sie wegen Diebstahls einer meiner Tinkturen anzuklagen.« Vinae riss die Augen auf. Der schmerzhafte Griff um ihren Arm wurde noch stärker. »Der Junge kommt in ein gefährliches Alter. Er ist übermütig. Unfälle geschehen schnell.« Er ließ sie los. »Du gehst nicht mehr in den Kerker.«
Einen Augenblick lang starrte sie den Fürsten noch an, drehte sich dann jedoch nach einem flüchtigen Knicks um und ging durch den zwielichtigen Tunnel davon, der den Gestank des Todes in sich trug. Den Gestank des Sonnentals.
Das Pferd konnte nicht schnell genug laufen, um ihr durch den schneidenden Wind der Geschwindigkeit ein Gefühl von Freiheit zu vermitteln. Die letzte Siedlung von Acre lag längst hinter ihr, und doch war Vinae immer noch eine Gefangene jenesOrtes, an welchem Daeron und Menavor herrschten. In halsbrecherischem Tempo galoppierte sie über die Ebene, vorbei an den weitläufigen Feldern der rosa blühenden Artiluspflanzen, die den süßen Duft von Vanille verströmten. Ihr Weg führte sie immer weiter Richtung Westen, dorthin, wo sich das Schneegebirge dem Himmel entgegenstreckte.
Das Sonnental war ein wunderschönes Land – die weite Graslandschaft, vor ihr die bewaldeten Berge, hinter denen sich noch höhere aus hellem Gestein emporhoben, deren schneebedeckte Gipfel über zarte Wolkenfetzen hinausragten. Doch die Schönheit konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass alles hier vergiftet war. Durch die Seuche der Fürstenbrüder und ihrer Mutter.
Vinae erreichte die ersten Ausläufer des Gebirges, verlangsamte das Tempo und bahnte sich einen Weg zwischen den steil aufragenden Felsen und den immer dichter stehenden Bäumen hindurch, die sich inmitten des Gerölls an die Bergflanke klammerten.
Bevor der Pfad steiler wurde und sich ein Dickicht aus Birken, Haselnusssträuchern und Brombeerhecken zu einem wild verwachsenen Wald schloss, passierte Vinae noch den Siberstreif – einen Nebenfluss des Rivendel, der bei Riniel ins Meer mündete. Sie kannte die Tücken dieses launischen Gewässers, das sich in hellem Grün zwischen tiefhängenden Weiden und kahlen Steilwänden hindurchwand. Nur wenige Stellen waren ruhig genug, um einen Übergang zu wagen, doch sie kannte sie alle und nahm niemals den Umweg zur Brücke.
Von zahlreich verstreuten Felsblöcken gelenkt, beschleunigte sich das Wasser zu weiß schäumenden Stromschnellen, welche die Strahlen der Sonne reflektierten und einem weniger vorsichtigen Reisenden zum Verhängnis werden konnten. Doch der Hengst lief in leichtem Galopp
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