Elfenlord
konnte Henry, so nahm er an, vielleicht noch ein oder zwei Tage überleben, danach aber würde er einem besonders unangenehmen Tod ins Auge sehen. Und obwohl Lorquin überhaupt nicht erkennen ließ, dass er auch nur im Traum daran dachte, ihn allein zu lassen, zerrte es dennoch enorm an seinen Nerven, so völlig von einem Kind abhängig zu sein. Henry zögerte. »Und was machen wir jetzt?«
»Wir warten«, sagte Lorquin.
Nach einer Pause fragte Henry: »Und worauf warten wir?«
»Auf den Sonnenuntergang. Der Vaettir kommt heraus, wenn es dunkel wird.«
Das war genau das, was Henry vermutet hatte, als er beiihrem ersten Zusammenstoß geflohen war. Der Vaettir war eine nachtaktive Kreatur. »Und was machen wir dann?«
»Wir folgen ihm«, sagte Lorquin. »Mit etwas Glück führt er uns zu dem Draugr.«
Das war nun genau das, worüber Henry eigentlich lieber nicht nachdenken wollte. Allein die Erinnerung an den Vaettir erfüllte ihn noch immer mit Angst und Schrecken, da wollte er besser gar nicht erst anfangen, sich Gedanken über den Draugr zu machen. »Sieh mal, Lorquin«, begann er unsicher, »also dieser Draugr …«
Mit fester Stimme sagte Lorquin: »Wir müssen uns hinlegen, EnRi, und uns im Sand eingraben.«
Henry hielt sofort inne. »Warum?«
»Damit der Vaettir uns nicht riecht, wenn er die Gruft verlässt. Er wird in der Dämmerung herauskommen, und dann ist er besonders wachsam. Wenn er weiß, dass wir hier sind, wird er angreifen, und wir müssen ihn töten, und dann wird er uns nicht zum Draugr führen.«
»Und was passiert, wenn er uns tötet?«
Lorquin sah ihn verständnislos an. »Dann wird er uns auch nicht zum Draugr führen«, sagte er.
Es war wirklich eine andere Welt. Lorquin dachte nicht in Entferntesten so wie er. Sich auf das Elfenreich einzustellen, war schon manchmal schwierig genug, aber sich an einen blauen Jungen zu gewöhnen, der irgendwie in der Wüste überlebte, war beinahe unmöglich. Lorquin lag bereits mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden und bedeckte sich sorgfältig mit Sand, indem er mit beiden Armen ausholende Bewegungen machte. Im Nu war nur noch ein Teil seines Kopfes zu sehen, doch seine Augen waren wachsam. Kurz danach lag Henry neben ihm und tat das Gleiche. Sie lagen Seite an Seite und starrten auf die immer dunkler werdende Silhouette der Gruft.
»Weißt du, Lorquin«, sagte Henry noch einmal und kam auf sein früheres Anliegen zurück, »ich bin vielleicht keine besonders große Hilfe für dich, falls – wenn – wenn wir diesesDraugr-Ding erwischen. Ich meine, da, wo ich herkomme, spielt es nicht so eine große Rolle, dass man … gegen irgendwelche Kreaturen kämpft oder Initiationsrituale besteht oder irgend so etwas.«
»Wie bist du denn dann zum Mann geworden, EnRi, als auf deinem Körper Haare wuchsen und du dich nicht mehr für die Dinge der Kindheit interessiert hast?«
»Ich habe angefangen, Popmusik zu hören«, sagte Henry.
Und dauernd an Mädchen gedacht
, fügte er in Gedanken hinzu. Irgendwie hörte sich das albern an, wenn man es mit dem Vorhaben verglich, loszuziehen, um einen Löwen oder Draugr zu töten. Er zögerte und starrte auf die sinkende Sonne. »Wie auch immer«, fuhr er eilig fort, »der Punkt ist, ich habe überhaupt keine Erfahrung mit diesem Draugrzeug, und das bedeutet, dass ich wirklich nicht der tolle Gefährte bin, und da wäre es wahrscheinlich besser, wenn du das Ganze einfach … also, einfach vergisst und zu deinem Volk zurückkehrst, und vielleicht könntest du, wenn das für dich in Ordnung wäre, jemanden bitten, mir den Weg aus der Wüste zu zeigen.«
Und dann könnte ich nach Hause gehen
, dachte er, obwohl er sich nicht ganz sicher war, was er genau mit
zu Hause
meinte oder wie er dahin kommen sollte, selbst wenn er aus der Wüste entkam.
»Aber wie soll ich dann zum Mann werden?«, fragte Lorquin. Seine Augen, die aus dem Sand hervorlugten wie die eines Krokodils im Wasser, waren vor lauter Verwirrung weit aufgerissen.
»Gibt es denn keinen anderen Weg?«, fragte Henry verzweifelt. Er zerbrach sich den Kopf, um sich an alles zu erinnern, was er je über primitive Gesellschaften gelesen hatte. »Eine Visionsreise oder so etwas?« Etwas Sicheres. Etwas ohne … Töten … »Was genau ist denn ein Draugr überhaupt?«, fragte er.
Aber Lorquins weit aufgerissene Augen sahen nicht mehr in seine Richtung. »Wir müssen jetzt ganz still sein, EnRi«, flüsterte er.
Henry folgte seinem Blick
Weitere Kostenlose Bücher