Elfenwinter
waren nicht mit Wald bedeckt.
Verwirrt sah der Schwertmeister sich um. Die Brücke ragte nur ein kleines Stück in einen Talkessel hinein, der wohl zwei Meilen oder mehr durchmessen mochte. Die steilen Berghänge waren terrassiert. Die Mauern ahmten Felsstrukturen nach, so-dass sie auf den ersten Blick kaum auffielen. Es war ihr eleganter Schwung, der sie verriet. Nach keinem erkennbaren System geordnet, erhoben sich steile Felsnadeln aus dem Tal. Die höchsten schienen bis fast in den Himmel zu reichen. Feine weiße Wasseradern rannen von ihren Spitzen hinab durch gewundene Riefen im blaugrauen Granit. Das ganze Tal wirkte zu har-monisch, um natürlich zu sein. Ollowain kannte es. Fast fünfhundert Jahre waren vergangen, seit er zum letzten Mal hier gewesen war. Die Himmelshalle war damals noch viel kleiner gewesen.
Der Schwertmeister legte den Kopf in den Nacken. Der Himmel über ihren Häuptern war Illusion. Es war durchscheinend blauer Fels, so wie auf der Insel bei Vahan Calyd. Doch hier hatte man alle Metalladern entfernt, um die Illusion noch wirklicher erscheinen zu lassen. Und es gab sogar echte Wolken! Sie hingen unter der durchscheinenden Decke. Die Wolken bewegten sich nur vage, so wie Nebelschleier an einem windstillen Morgen. All das hier war eine riesige Höhle. Das Herz von Phylangan, dem steinernen Garten, der Felsenburg, die am einzigen Pass zur Hochebene von Carandamon wachte. Bei seinem letzten Besuch hatte der Albenstern noch in einer Grotte weit oberhalb der Himmelshalle gelegen. Die Baumeister und Magier der Normirga mussten die Halle gewaltig ausgedehnt haben.
»Bring mich von hier fort«, sagte Lyndwyn leise. Sie zitterte am ganzen Leib. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie in den Abgrund.
Ollowain seufzte. Das hatte ihm gerade noch gefehlt! Er streckte ihr die Hand entgegen. Sie stand nur einen Schritt hinter ihm. »Komm.«
»Ich… Ich kann nicht.« Lyndwyn ging in die Hocke. Sie presste beide Hände fest auf den Boden. Noch immer blickte sie wie gebannt in den Abgrund. »Es ist, als rufe mich die Tiefe«, stammelte sie. »Ich soll springen. Fliegen wie ein Vogel.«
»Schließ deine Augen«, sagte Ollowain. »Du darfst nicht hinsehen. Ich werde dich hinüberführen. Komm.« Der Schwertmeister ging neben ihr in die Hocke. »Wende deinen Blick ab.«
»Das… der Abgrund, er hält mich gefangen. Ich…«
Er griff unter ihr Kinn und zwang sie, ihm ins Antlitz zu sehen. »Siehst du meine Augen? Verlier dich in diesem Abgrund. Sag mir, welche Farbe sie haben.« Sie wollte den Kopf wieder zur Seite neigen, doch er hielt ihr Kinn fest. Ihre Haut war klebrig vor Schweiß. Alle Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen. »Wie sehen meine Augen aus?«
»Sie sind grün.«
Der Schwertmeister griff sie am Handgelenk. Noch immer presste sie ihre Handflächen auf den Boden. Ihre Finger krümmten sich in dem vergeblichen Versuch, Halt auf dem glatten Stein zu finden.
»Du wirst jetzt aufstehen. Und sieh mir weiter in die Augen! Findest du nicht, dass grün eine unangemessene Beschreibung ist? Was für ein Grün ist es? Sieh genauer hin.« Ollowain erhob sich. Er hielt Lyndwyn mit seinem Blick gefangen. Zögerlich richtete sich die Magierin auf.
»Deine Augen haben die Farbe von Moos, wie man es auf den Steinen des versiegelten Albensterns nahe der Shalyn Falah findet. Deine Iris ist eingefasst von einem dünnen, schwarzen Rand. Das Grün ist nicht ebenmäßig. Feine Lichter und Schatten durchziehen es.«
Ollowain ging langsam rückwärts. Lyndwyn folgte ihm mit unsicheren Schritten. Er hielt nun ihre beiden Hände. Er musste in ihr Antlitz sehen, damit sie ihren Blick nicht abwendete. Unter ihnen ging es mehr als zweihundert Schritt in die Tiefe.
»Wenn der Abgrund deiner Pupillen sich weitet, wandelt sich das Grün. Es wird dichter. Dunkler. Ich sehe mein Spiegelbild in deinen Augen. Verzerrt. Eine groteske Kreatur. So finde ich in deinen Augen wohl ein Abbild dessen, was du in mir siehst.«
Lyndwyn war ihm sehr nahe gekommen. Ihr Atem berührte sanft seine Lippen. Sie war schön… Begehrenswert. Ollowain räusperte sich. Ging es dieser verfluchten Magierin schon wieder so gut, dass sie versuchte, einen Liebeszauber auf ihn zu legen? Hatte sie die Höhenangst nur vorgetäuscht?
»Es ist die Krümmung meiner Augäpfel, die dein Spiegelbild verzerrt, Lyndwyn. Nicht mehr und nicht weniger steckt dahinter.«
»Deine Augäpfel sind von makellosem Weiß«, fuhr sie fort, ohne auf seinen Einwand
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