Elfenwinter
tun!
Dieser Albtraum war nun Wirklichkeit geworden. Ulric war gestolpert. Es war auf dem letzten Stück des Passweges geschehen. Der Junge hatte sich den Fuß verstaucht. Er hatte nicht weitergehen können. Gundar hatte gebettelt und gefleht, und Ulric hatte es tapfer versucht, aber er hatte nicht mehr laufen können. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte der alte Priester ein Kind angeschrien. Er hätte Ulric doch nicht zurücklassen können! Dunkle Wolken waren über den Bergen im Norden gestanden. Der nächste Sturm war heraufgezogen. Zwei Stunden waren es noch bis Firnstayn gewesen. Und zwei weitere Stunden zurück, wenn er sofort Hilfe geschickt hätte. Zu lange, um ein Kind mitten auf einem verschneiten Hang zurückzulassen. Schon vor Sonnenaufgang hatten sie den Wehrberghof verlassen. Und sie waren so schnell gegangen, wie sie nur konnten. Ulric war unter seinem Mantel genauso verschwitzt gewesen wie Gundar. Den Jungen mitten im Schneefeld im Stich zu lassen, wo er vier Stunden still sitzen würde… Das hätte geheißen, ihn dem sicheren Frosttod auszuliefern.
Nun presste Gundar Ulric dicht an sich. Der alte Priester taumelte. Nur die Wut, dieses Schicksal nicht anzunehmen, trieb ihn noch vorwärts. Er schloss die Augen und stapfte einfach nur weiter. Jetzt musste er nur noch den Hügel hinauf. Fünfzig Schritt. Der Junge war leicht. Viel leichter als das Geschenk Luths, das sie aus der Felsspalte gezogen hatten. Diese Gabe schnürte ihm die Luft ab. Alles tat ihm weh. Sein Atem war nur noch ein verzweifeltes Japsen wie bei einem Jagdhund, der seine Beute bis ans Ende seiner Kräfte verfolgt hatte. Gundar musste lächeln. Es gefiel ihm, sich vorzustellen, der Jagdhund Luths zu sein. Aber ein Jagdhund am Ende seiner Kräfte… Was hatte die Stimme im Traum gesagt?
»Vahelmin ist dein Name.«
»Was ist?«, fragte Ulric. »Von wem redest du?«
Gundar lehnte mit dem Kopf an der Tür zum Langhaus. Er war den Hügel hinauf! Er konnte sich nicht erinnern, wie er den Weg hinaufgekommen war. Keuchend setzte er den Jungen ab. »Von wem redest du?« Ulric stützte sich an der Wand ab. Schnee klebte in großen, weißen Pocken auf dem Holz.
Gundar wollte erleichtert aufatmen, doch eine eiserne Klammer umschloss sein Herz. Das Göttergeschenk erdrückte ihn! Er durfte nicht aufgeben.
»Bitte, Luth!«, stieß er hervor. »Bitte, gib mir Kraft!« Gundar drückte die Tür auf. Stickige Wärme und der Geruch eines Feuers aus Buchenholz schlugen ihm entgegen. Er schob den schweren Vorhang der Stiefelkammer zur Seite und strauchelte fast. Seine Finger krallten sich in den groben Stoff Da war es! Das Untier! Es stand dicht vor Asla. Die Hausherrin hatte eine Holzkelle erhoben und wollte auf die Geistgestalt einschlagen.
»Vahelmin ist dein Name!«, krächzte Gundar.
Die Schreckenskreatur drehte sich um. Ihr Kopf sah wirklich ein wenig wie ein Wolfskopf aus. Einen Lidschlag lang sah ihn das Ungeheuer an, und Gundar erschauderte unter dem Blick bis ins Mark. Dies war die Gestalt gewordene Finsternis. Das Böse!
Das Wolfspferd wandte sich wieder ab. Es schnappte nach As-las Bauch! »Vahelmin ist dein Name!« Der Vorhang glitt durch Gundars Finger. Er brach in die Knie. »Mein Licht musst du rauben, wenn du wieder sein willst, was du einst warst. Erinnere dich! Vahelmin ist dein Name!«, keuchte der Priester mit seinem letzten Atem.
Ulric drängte an ihm vorbei. Er hielt den Elfendolch mit beiden Händen umklammert und humpelte in die Stube. Das Wolfspferd drehte sich um. Mit einem Satz durchmaß es den Raum. Sein Leib glitt durch den Jungen hindurch, der zu Boden stürzte. Gundar breitete die Arme aus. Er blickte in den weit klaffenden Kiefer der Bestie. Dolchlange Zähne fuhren in seine Brust. Das eiserne Band um sein Herz zersprang. Kälte durchdrang ihn. Seine Barthaare knisterten. Blaues Licht umgab ihn. Ein seltsamer Geruch, wie nach einem Gewitter, war in der Luft. Das blaue Licht war jetzt verschwunden. Der Geist auch.
Gundar blickte zur Decke der Stiefelkammer. Er musste nach hinten gestürzt sein, aber er konnte sich nicht erinnern, wie er auf den Boden geschlagen war.
Aslas Gesicht schob sich über ihn. Sie war wirklich eine schöne Frau… Der Priester fühlte keine Erschöpfung mehr. Jetzt war auch die Elfe bei ihm. Wenn er ja ein wenig jünger wäre… Sie öffnete sein Wams! Jemand schob ihm eine Decke unter den Nacken. Sein Kopf kippte nach hinten. Jetzt konnte er die Elfe nicht mehr sehen. Nein…
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