Elfenwinter
Emerelle erst einmal besser ging, würde sie schon wissen, was zu tun war.
»Dann lasst uns gehen«, sagte die Magierin mürrisch. Orime-des nahm die Königin auf die Arme. Die Jägerin und die Kriegerin stützten Ollowain. Gondoran lief neben ihnen her. Er wirkte niedergeschlagen.
Das Meer hatte den Fels ausgewaschen und einen tiefen Tunnel unter den Berg gegraben. Zersplitterte Muscheln knirschten unter ihren Schritten. Obwohl der Eingang schon weit hinter ihnen lag, war es immer noch hell. Der weiße Fels schien von innen heraus zu leuchten wie die Wände in Emerelles Palast. Er wirkte durchscheinend. Blassblaues Licht durchdrang ihn. Goldene Adern durchzogen das Gestein. Sie waren zu komplizierten Mustern verwoben. Spiralen und Knoten schienen dem Kundigen eine geheime Botschaft übermitteln zu wollen. Der Schwertmeister spürte, wie sich seine Nackenhaare aufrichteten. Er war nicht sehr begabt, was die Zauberei anging, doch selbst er fühlte die Kraft der uralten Magie, von der dieser Ort durchdrungen war.
Schließlich öffnete sich der Tunnel zu einer großen, runden Kammer. Hier mengten sich schwarze Adern unter das Gold in den Wänden. Lyndwyn trat in die Mitte der Felskammer und kniete sich auf den Boden. Die linke Hand presste sie flach auf den Stein, die Rechte legte sie auf ihre Brust. Sie schloss die Augen. Ihre Lippen bewegten sich.
Ollowain war sich nur zu bewusst, wie sehr sie der Magierin ausgeliefert waren. Er musste ihr folgen, wenn sie die Gruppe über die Pfade des Lichts führte. Wohin Lyndwyn sie brachte, würden sie erst sehen, wenn sie durch das zweite Tor traten.
Ein Bogen aus Licht wuchs aus dem Boden. Mit ihm erhoben sich die schwarzen und goldenen Adern; wie lebendige Wesen tanzten sie im Stein. Das blaue Licht wurde immer heller. Der Fels war wie Glas. Man konnte durch ihn hindurch bis zum Meer sehen. Ein großer Schwarm Kormorane erhob sich aus dem Zeugenbaum am Eingang der Bucht und flog auf das Meer hinaus. Ein Zeichen? Es war Zeit zu gehen!
Ollowain bewegte den Kopf in Richtung des Lichtbogens. Yil-vina trat nicht zum ersten Mal durch einen Albenstern. Mit ihr war er in Aniscans gewesen. Jahrelang hatten sie die Welt der Menschen bereist. Doch die Schwertkämpferin wirkte angespannt. Sie hatte ihre Lippen zu einem schmalen Strich zusammengepresst. Gemeinsam traten sie durch die Pforte. Finsternis legte sich wie ein alles erstickender Mantel um sie. Nur ein schmaler, goldener Pfad leuchtete zu ihren Füßen.
»Weicht nicht vom Weg ab!«, hörten sie die Stimme der Magierin hinter sich. »Wer den Pfad verfehlt, ist auf immer verloren.«
DAS GESCHENK DER FREIHEIT
Die Leiche der falschen Königin war mit zwei Stricken auf den Schild Branbarts gebunden worden. Ihr Kopf hing leicht zur Seite. Damit die Krone nicht herabfiel, hatte man sie mit dünnen Nägeln an ihren Schädel geheftet. Der Schild lehnte an der rußgeschwärzten Säule, die sich in der Mitte des Muschelfischermarktes erhob. Jeder, der vorüberging, konnte die Schwa-nenkrone deutlich erkennen. Und glaubte man Skanga, sollte die Krone allein reichen, jedes Auge zu blenden. Die verbrannte Tote sah Emerelle ähnlich genug. Die Albenkinder sollten in einigen Schritt Abstand an der vermeintlichen Leiche vorbeigeführt werden. Zu ihren Füßen lagen der falsche Ollowain und andere, wahrhaftige Fürsten Albenmarks.
Orgrim fand diesen Betrug eines Trolls unwürdig. Er vermutete, dass die alte Schamanin die Intrige ersonnen hatte. Dass er zu den Wachen gehörte, die bei der Königin standen, war allerdings gewiss Branbarts Idee gewesen. Von hier aus sah er all die Herzöge und Rudelführer, die sich zum Siegesfest um den König geschart hatten. Deutlicher konnte man ihm seinen Fall nicht vor Augen führen. Auch Gran und Boltan gehörten zu den Wächtern der Leichen. Süßlicher Verwesungsgeruch ging von den Toten aus. Die Hitze und die unzähligen Fliegen hatten den Kadavern bereits übel mitgespielt.
Auf dem weiten Platz herrschte ängstliche Stille. Alle Albenkinder, welche die Eroberung Vahan Calyds überlebt hatten, waren hier zusammengetrieben worden. Nur ihre Fürsten wur-
den an einem anderen Ort gefangen gehalten. Viele waren verwundet und am Ende ihrer Kräfte. Manche warteten schon seit Stunden in der Hitze. Im Morgengrauen hatten die Trolle damit begonnen, die Überlebenden hierher zu treiben.
Auf Branbarts Geheiß hatte man Wasserfässer und Brot gebracht. Doch dem König war es nicht gelungen, durch diese
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