Elfenzeit 1: Der Hauch der Anderswelt - Schartz, S: Elfenzeit 1: Der Hauch der Anderswelt
unsichtbar.
Immerhin waren sie nicht durchsucht oder abgetastet worden. So bedeutend war Boy X also noch nicht.
Eine spindeldürre, etwa fünfunddreißigjährige Frau öffnete ihnen die Tür. Die eingefallenen Wangen, die trockene Papierhaut und ihr hungriger Blick zeigten deutlich, dass sie Bulimikerin war. Der verbitterte Zug um den Mund ließ Nadja vermuten, dass sie das Gefühl hatte, trotzdem zu viel vom Leben zu versäumen. Sie trug knallenge Jeans und ein T-Shirt in Kindergröße, was sie möglicherweise für sexy hielt, ihre Magerkeit aber nur noch mehr hervorstrich. Nicht einmal der Ansatz von Brüsten zeichnete sich unter dem Stoff ab.
»Ich bin Eliette, wir haben telefoniert«, sagte sie in geschäftsmäßigem Tonfall. »Kommen Sie, wir haben nicht alle Zeit der Welt. Boy X muss sich auf seinen Auftritt heute Abend vorbereiten.«
Eliette eilte mit eckigen Schritten. Sie trug Stilettos, und Nadja zuckte ein paarmal zusammen, weil sie das Gefühl hatte, jetzt müssten gleich die dürren Unterschenkel bei so viel Schwung brechen.
»Ich erkläre Ihnen noch, was Sie fragen dürfen, und …«
»Hören Sie«, unterbrach Nadja. Nun riss ihr der Geduldsfaden. »Wir sind in offiziellem Auftrag eines deutschen Lifestyle-Magazins hier, das eine Auflage von etwa siebenhunderttausend Exemplaren erreicht. Was keine Kleinigkeit in diesen Zeiten ist. Wir kommen weder für ein Jugend- noch für ein x-beliebiges Musikblättchen. Ich stelle die Fragen, die ich stellen will, und mein Fotograf kommt seiner Pflicht nach, und Sie reden mir nicht dazwischen. Der Manager bekommt einen Vorabzug vor Drucklegung, wo er sagen kann, was ihm nicht gefällt. Aber Sie und ich, Eliette, haben sonst nichts miteinander zu besprechen. Ihr Auftritt erübrigt sich im Türöffnen und -schließen, und zwar von außen.«
»Also das …«
»Wir können auch wieder gehen. Wissen Sie, Boy X steht erst am Anfang seiner Karriere. Dass wir uns überhaupt für ihn interessieren, zeigt, dass wir uns viel von ihm versprechen. Es wird also jeder von uns profitieren. Aber wenn Sie hier einen auf Weltstar machen wollen, sind Sie bei uns an der verkehrten Adresse. Entweder Sie lenken ein, oder wir gehen wieder. Sie brauchen keine Angst um Ihren Schützling zu haben, wir sind Profis. Sie könnten derweil etwas Gutes für Ihren ausgehungerten Magen tun, und wir erledigen unsere Arbeit und sind im Nu wieder weg. Haben wir uns jetzt verstanden?«
Eliette schwieg, die Lippen nur ein dünner, blutleerer Strich. »Gehen Sie einfach voran«, stieß sie zwischen zusammengepressten Zähnen hervor. »In exakt dreißig Minuten sind Sie hier wieder draußen, oder ich rufe den Sicherheitsdienst.«
Nadja lächelte sanft. »Keine Sorge, bis dahin sind wir wieder weg.«
Die Suite war groß und weitläufig, mit allem erdenklichen Luxus. Viel Holz, im Retrostil des neunzehnten Jahrhunderts, aber dennoch modern und freundlich aufgrund der hellen Möbel. Durch die große Fensterfront bekam Nadja einen einmaligen Blick auf den Eiffelturm. Der Triumphbogen und der Louvre konnten jeweils bequem zu Fuß über die Champs Élysées erreicht werden. Vom Triumphbogen aus weiter Richtung Nordwesten führte nahezu geradlinig die Avenue Charles de Gaulle zur Grand Arche im Viertel La Défense.
Boy X erwartete sie in einem Nebenraum, der als kleines Besprechungszimmer eingerichtet war. Der junge Mann saß auf einem champagnerfarbenen Sofa, vor dem zwei Besucherstühle aufgestellt waren. Kein Tischchen in der Nähe, was bedeutete, ein Kaffee würde ihnen wohl nicht angeboten.
Nadja verzog das Gesicht.
Na schön
, dachte sie,
allzu lange wollen wir uns hier auch nicht aufhalten
.
Robert machte sich gleich an die Arbeit. Der Fotograf sah sich aufmerksam um, prüfte die Lichtverhältnisse und verschoss ein paar Probeaufnahmen, ohne den Star zu beachten.
Nadja streckte Boy X die Hand hin. »Bonjour, ich bin Nadja Oreso, und das ist …«
»Ich weiß, wer Sie sind«, unterbrach der junge Mann träge.
Nadja war erstaunt, wie schlaff und kraftlos sein Händedruck war. Der Sänger ließ die Hand nach kurzer Berührung fallen, als wäre sie nicht seine eigene.
Zugegeben, er war erstaunlich hübsch und hatte einen gewissen schüchternen Ausdruck, der auf viele Frauen unweigerlich anziehend wirkte. Ein Mädchenschwarm war er allemal. Von seiner angeblich so reinen Stimme war jetzt allerdings nichts zu hören, sie klang eher, als wäre er noch nicht ganz dem Stimmbruch entronnen.
Nadja
Weitere Kostenlose Bücher