Elfenzeit 1: Der Hauch der Anderswelt - Schartz, S: Elfenzeit 1: Der Hauch der Anderswelt
soll. Zudem singen Sie ihn auf Englisch. Erzählen Sie mir etwas darüber. Wie Sie auf die Idee zu diesem Song kamen, was er Ihnen bedeutet, warum Sie auf Englisch singen und wieso er anders ist.«
So. Alle Fragen auf einmal.
Nun muss er entweder mit ebenso vielen Gegenfragen kontern oder endlich ein ordentliches Interview führen!
, dachte Nadja wütend.
Und tatsächlich ging eine Wandlung mit dem jungen Mann vor sich. Er richtete sich aus seiner trägen Haltung auf, ein träumerischer Ausdruck trat in seine Augen, was allerdings die Glasigkeit kaum unterdrücken konnte, und er fing an zu erzählen: »Wissen Sie, als ich einmal in den Spiegel schaute, hatte ich das Gefühl, als blickte jemand zurück.«
Boy X räusperte sich. »Ich kann nicht genau sagen, wie derjenige aussah … Ich glaube, es war eine Frau. Diese Augen … solche habe ich noch nie gesehen. Und es war, als würde sich ein Mund bewegen, mit wunderschönen vollen Lippen, und plötzlich verspürte ich den Zwang, etwas aufschreiben zu müssen. Ich habe ja überall Schreibzeug rumliegen, also habe ich es genommen und angefangen zu schreiben. Und als ich damit fertig war, war auch der Song fertig. Ich habe keine Ahnung, wie ich darauf gekommen bin. Als wäre er mir diktiert worden.«
»Wie eine Muse …«, entfuhr es Robert. Der Fotograf hob die Hand. »Entschuldigung.«
»Die richtige Melodie dazu zu finden war nicht schwer. Das Stück ist total abgefahren. Es wird die Menschen süchtig machen.«
»Es steckt also viel Herzblut darin.«
»Ich weiß nicht. Ja, vielleicht. Geblutet hab ich anschließend allerdings, und zwar aus der Nase. Und dann wurde ich ohnmächtig. Sie fanden mich im Bad, mit dem fertigen Song in der Hand und voller Blut. Aber bald danach war ich wieder fit. Dann haben wir ›Mirror, Mirror‹ aufgenommen, und das Studio drehte halb durch. Alle fanden den Song unglaublich gut. Mein Manager … George … sagt, das wird das meistverkaufte Stück des Jahres, wenn nicht des Jahrzehnts. Und heute Abend spiele ich es zum allerersten Mal vor Publikum. Dabei ist es noch nicht mal im Radio gelaufen. Alles streng unter Verschluss. Das treibt die Spannung in die Höhe.«
Nadja hielt den Blick aufs Papier geheftet. Diese Unterhaltung wurde immer bizarrer. Surrealer. Irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht. Auf ihren Armen hatten sich die Härchen aufgestellt und wollten sich nicht mehr glatt legen.
»Haben Sie diese Begegnung im Spiegel noch einmal gehabt?«, fragte sie leise.
Boy X nickte. »Sie lässt mich gar nicht mehr los. So hab ich das Album voll bekommen. Das wird ein Riesenhit, das dürfen Sie mir glauben.«
»Darf ich mal das Bad benutzen?«, fragte Robert auf einmal.
»Klar, nur zu. Hat sogar ’ne automatische Reinigung. Das Klo, meine ich. Aber ich bin nicht zimperlich. Als ich klein war, hatten wir noch ein Plumpsklo. Das war noch im guten, alten vorigen Jahrtausend.« Boy X lachte scheppernd.
Nadja wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. Da blitzte doch tatsächlich ein bisschen Leben durch, eine Ahnung von Humor und Sprachgefühl. Aber schon war es wieder vorbei, die Gesichtsmuskeln erschlafften. Der Achtzehnjährige sah aus wie ein Greis.
Nadja blickte erneut auf die Uhr. »Robert, wir haben nicht mehr viel …«
»Geht ganz schnell.« Der Fotograf verschwand im Flur. Gleich darauf klappte eine Tür leise zu.
Die Beleuchtung im Bad war indirekt und gedimmt. Den Spiegel hatten die Besitzer des Hotels so eingefärbt, dass er sogar Robert einen gesunden Teint und fünf Lebensjahre weniger vorgaukelte. Ansonsten war das Bad auf typisch französische Weise eher schlicht und entsprach keineswegs der Eleganz der übrigen Suite oder eines deutschen Luxushotels.
Robert öffnete sämtliche Schränke und Behälter, durchsuchte sogar den Abfall, tastete alle möglichen Verstecke, Ecken und Winkel ab. Es fand sich nichts Auffälliges. Boy X benutzte keine besonderen Kosmetika, auch in der Wahl des Aftershaves war er nicht besonders auffällig.
Nichts, was auf einen aufstrebenden achtzehnjährigen Jungstar schließen ließ. Nichts, was auf
irgendetwas
Individuelles an dem jungen Mann schließen ließ. Kein versteckter Hinweis auf seinen Namen, keine besonderen Vorlieben, keine kleinen Schwächen.
Und vor allem: keine Pillen oder Drogen, geschweige denn Alkoholisches. Wie konnte der junge Mann so zugedröhnt sein?
Von was?
, dachte Robert kritisch.
Er empfand es als irritierend, dass sich nichts Persönliches
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