Elfenzeit 1: Der Hauch der Anderswelt - Schartz, S: Elfenzeit 1: Der Hauch der Anderswelt
finden ließ. Robert wusste, bei ihm würde das anders aussehen: Er saß fünf Minuten in einem Hotelzimmer, und seine Sachen waren überall verstreut, der erste Whisky aus der Minibar geleert, der Aschenbecher mit Kippen voll, und im Bad stapelten sich allerlei Magazine. Dazu Fotosachen, der Drucker und diverse Papierausdrucke …
Nachdem er gar nichts gefunden hatte, blickte Robert in den Spiegel. Es war in seinen Augen albern, auf die Hirngespinste eines bekifften Jünglings zu hören, der schwülstige Lieder sang. Trotzdem – ein Alarmglöckchen hatte in Robert geklingelt und ihn misstrauisch gemacht. Etwas im Tonfall des jungen Mannes, dazu dieser Blick aus seinen Augen. Vielleicht hatte Robert sich schon zu sehr von Nadja anstecken lassen und war überempfindlich. Aber … dieser spontane Einfall mit der Muse …
Ach, Unsinn!
, dachte er ärgerlich, und sein Spiegelbild sah ihn streng an.
Ich lasse mich zu sehr in Phantasien verstricken. Die Fotos, die ich mache, sind alles, was zählt. Das kann ich, darin bin ich Profi. Ich habe ein gutes Auge für die Dinge, wie sie darzustellen sind, und ich kann mich nicht in Geschwafel verlieren, das kein Mensch versteht. Warum träume ich wohl seit dreißig Jahren von meinem Roman? Weil ich nicht in der Lage bin, ihn zu schreiben. Da nützt auch keine Muse etwas, das muss aus mir selbst kommen. Manchmal fühle ich mich inspiriert, und alles sprudelt über, aber es gelangt nichts vom Kopf aufs Papier. Weil ich mich verzettle, weil ich Angst habe, weil ich nicht zufrieden bin … Was soll’s? Das hier ist Nadjas Arbeit, ich kann ihr Hinweise geben, und der Rest ist ihre Aufgabe. Ich darf mich nicht einmischen
.
Er nickte sich selbst aufmunternd und anspornend zu.
Aber sein Spiegelbild nickte nicht zurück.
Robert blinzelte. Dann schnitt er eine Grimasse.
Sein Spiegelbild verblasste. Und dann … sah er …
Robert spürte, wie sein Hals trocken wurde. Wie das Blut aus seinem Gesicht wich. Über seinen Verstand legte sich ein Tuch. Das Bild vor seinen Augen verschwamm.
Als Nächstes wurde sich Robert bewusst, dass er auf dem kalten Fliesenboden vor dem Waschbecken lag. Er hatte keine Ahnung, wie er dahin gekommen war. Der Blick auf die Uhr sagte ihm, dass er vor etwa fünf Minuten umgekippt war. Glücklicherweise hatte er beim Sturz nichts mit sich gerissen. Weil er anscheinend wie ein nasser Sack in sich zusammengefallen war, hatte er sich nicht verletzt.
Verstört rappelte sich der Fotograf auf, lehnte sich übers Waschbecken und drehte den Kaltwasserhahn auf. Er befeuchtete die Hände und rieb sich das Gesicht. Fünf Minuten fehlten ihm in der Erinnerung, in denen er nicht wusste, was mit ihm passiert war.
Das ist nicht unbedingt eine neue Erfahrung
, dachte er sarkastisch. Ein paar Blackouts hatte er schon geschafft, als der Unfall noch nicht lange zurücklag und er es nicht zulassen wollte, dass sein Verstand begriff, wie es geendet hatte. Aber dabei war er jedes Mal betrunken gewesen und mit einem fürchterlichen Kater erwacht, und jemand hatte ihm erzählt, wie er nach Hause gekommen war.
Aber das hier war etwas anderes.
Etwas
hatte ihn ausgeschaltet. Nein, niemand hatte ihn niedergeschlagen. Sein Körper war nicht angerührt worden.
Aber seine Seele. Seine Seele, und sie hatte seinen Verstand gezwungen, sofort abzuschalten. Für fünf Minuten. Und dann erst wieder das System hochzufahren.
Obwohl alles unverändert schien, wusste Robert, dass es nicht mehr so war wie vorher.
Er
war nicht mehr so wie vorher.
Denn er hatte das Gesicht gesehen in dem Spiegel. Diese Augen … sie hatten ihn gebannt.
Sie
hatte gelächelt … glaubte er. Daran erinnerte er sich noch schemenhaft. Wenige Sekunden, bevor er weggetreten war.
Fünf Minuten gestohlen.
Jemand hatte ihn fünf Minuten in der Gewalt gehabt, ohne dass er es gewusst hatte. Er hatte keinen Einfluss darauf gehabt und es nicht verhindern können.
Das wiederum bedeutete, dass Boy X keine spätpubertären Phantasien von sich gegeben hatte. Aber erklärte es auch sein Verhalten?
Robert wagte einen Blick in den Spiegel und stellte fest, dass seine Augen ganz normal waren. Auch seine Gesichtsfarbe sah aus wie zuvor, und seine Hände waren ruhig wie immer.
Neben dem Waschbecken lag die Digitalkamera. Als Robert sie aufhob, sah er, dass sie eingeschaltet war. Er war hundertprozentig sicher, dass er sie vorhin ausgeschaltet hatte, um die Batterie zu schonen. Ein Blick auf die Fotoanzahl sagte ihm, dass er
Weitere Kostenlose Bücher