Elfenzeit 11: Merlins Erwachen - Hartmann, C: Elfenzeit 11: Merlins Erwachen
Rückenlehne des Beifahrersitzes gestemmt. Mit dem Kinn wies er in Richtung ihres Fahrers.
Rian konnte nur hoffen, dass der ungefähr fünfzigjährige Mann, der sich freundlicherweise an einer Raststätte bereit erklärt hatte, sie bis Concoret mitzunehmen, kein Deutsch sprach. »Wie meinst du das?«, fragte sie ihren Bruder.
David verzog das Gesicht. »Schau ihn dir doch an! Ein Gesicht wie Jean Reno, eine Gitanes im Mundwinkel, dazu einen mindestens dreißig Jahre alten Klapperkasten, den er über die Straße prügelt, als sei der Leibhaftige hinter ihm her.«
Rian hatte keine Ahnung, wer Jean Reno war. Sie vermutete, dass es sich dabei um einen der Schauspieler handelte, die David bei seinen endlosen Fernsehsessions kennengelernt hatte. Aber in einer Hinsicht musste sie ihrem Bruder recht geben: Der Franzose auf dem Sitz vor ihr sah nicht nur verwegen aus, er fuhr auch so! In den zwanzig Minuten, die sie nun mit ihm unterwegs waren, hatte er viermal gefährlich überholt, einer würdevollen alten Dame in einem silbernen VW die Vorfahrt genommen und ungefähr ein Dutzend Kurven geschnitten.
So unauffällig wie möglich musterte Rian den Mann im Rückspiegel. Er hatte ein sonnenverbranntes Gesicht mit Tausenden von kleinen Fältchen rings um die Augen und einem grauen Dreitagebart, aus dem seine Zigarette ragte und beständig auf und ab wippte. An der Raststätte kurz hinter Rennes, wo er sie aufgegabelt hatte, hatte er sich als Régis vorgestellt.
Die Fältchen um Régis’ Augen vertieften sich noch ein wenig mehr, sobald er im Rückspiegel Rians Blick begegnete.
»Je me demande pourquois une femme aussi jolie que vous, souhaite aller à Concoret«
, sagte er. »Ich frage mich, warum eine so hübsche Frau wie Sie Concoret besuchen will.« Wie schon bei ihrer Abfahrt wunderte sich Rian, dass seine Stimme so gar nicht zu seinem finsteren Äußeren passen wollte. Régis hatte einen glockenhell klingenden Sopran.
»Wir wollen uns den See ansehen«, antwortete sie ihm und wechselte selbst ins Französische.
Régis runzelte die Stirn, dann glitt ein Ausdruck des Verstehens über seine Miene. Er schlug sich mit der rechten Hand vor die Stirn. »Ah! Den See von Comper? Wohl Fans vom alten Zausel Merlin!« Er lachte auf, wobei ihm die Zigarette aus dem Mund fiel. Mit der Linken fischte er danach – und hob beide Hände vom Lenkrad. Der altersschwache Renault kam bedenklich ins Schlingern, und ein paar verrostete Schraubenzieher, die im Fußraum des Beifahrersitzes herumlagen, schlugen klappernd aneinander.
»
Merde!
« Eilig griff Régis zu, brachte den Wagen zurück in die Spur und lachte noch lauter.
»Alle Götter im Himmel!«, hörte Rian David leise fluchen. »Wenn der so weitermacht, kann die Herrin vom See lange auf uns warten.«
Rian warf ihm aus den Augenwinkeln einen besorgten Blick zu. Seit eine Seele in seinem Körper heranwuchs, legte er manchmal seltsame Verhaltensweisen an den Tag – wie zum Beispiel Angst vor einem Autounfall zu haben. Rian suchte nach dem Leuchten in seiner Brust, das seine wachsende Seele anzeigte. In den letzten Tagen war es immer heller geworden, und Rian war froh, dass Menschen wie Régis es nicht sehen konnten. Sonst hätten die beiden Elfen sich eine wirklich gute Erklärung einfallen lassen müssen.
Aber das war es nicht, was ihr Sorgen machte, sondern vielmehr die Wandlung, die mit David vorging. Noch war er Elf, Fanmórs Sohn, ihr geliebter Zwillingsbruder. Und doch glaubte sie ganz schwach zu spüren, wie er sich veränderte und ihr zunehmend fremder wurde. Sie biss sich auf die Lippe.
Davids Verwandlung hatte nur indirekt mit den Veränderungen in der Elfenwelt zu tun, in die nach unzähligen Jahrtausenden des Frühlings plötzlich der Herbst eingezogen war. Die Zeit versetzte die Elfen in Angst und Schrecken; sie war der Grund dafür, dass die Zwillinge sich in der Menschenwelt befanden, denn sie mussten den Quell der Unsterblichkeit aufspüren, um ihr Volk vor dem Untergang zu retten. Im Verlauf ihrer Suche hatten sie mit den seltsamsten und rätselhaftesten Gestalten aus beiden Welten zu tun gehabt. Sie hatten Alberich getroffen, den tot geglaubten Hüter des Nibelungenhorts, an den Rian nur mit Schaudern zurückdachte. Sie hatten Nidhögg, den Neidischen Drachen, über sein Wissen zur Unsterblichkeit befragt. Sie waren auf dem Kalten Fluss zum Ätna gereist, wo der Feind den letzten Stab auf einen Ley-Knoten gesetzt und damit Bandorchu, die Dunkle Königin, aus
Weitere Kostenlose Bücher