Elfenzorn
nachgedacht?«
»Worüber?«
»Wie du es Jesus beibringen willst.«
Eigentlich hatte sie in den zurückliegenden Tagen an nichts anderes gedacht ... nun ja, jedenfalls an nicht sehr viel mehr. »Nein«, antwortete sie. »So wichtig ist das auch nicht. Schließlich hat er nichts mit alledem zu tun, oder?«
Alicas direkte Antwort darauf bestand nur aus einem schrägen Blick, dann zuckte sie mit den Achseln und sagte: »Ich meine ja nur, weil du jetzt die Gelegenheit hättest, es zu tun ... natürlich nur, falls du der Meinung bist, dass es ihn etwas angeht.«
Pia blinzelte. »Wie?«
»Er ist wach«, bestätigte Alica. »Noch ein bisschen wackelig auf den Beinen, aber im Großen und Ganzen geht es ihm wieder gut. Er ist schon wieder eklig wie immer und findet an allem etwas, woran er herumnörgeln kann.«
»Er ist wach?«, vergewisserte sich Pia. »Und gesund?«
»Und er hat auch schon nach dir gefragt.«
»Und das sagst du erst jetzt?« Pia fuhr auf dem Absatz herum und begann aufgeregt mit den Händen in der Luft herumzufuchteln. »Bring mich zu ihm! Schnell!«
»Seid Ihr denn sicher, dass Ihr Eure Meditation unterbrechen und Euch in die feindselige Welt des Materiellen hinauswagen wollt, o Allerehrwürdigste unter den Ehrwürdigen dieser Welt?«, fragte Alica.
»Ist dir da unten in der Mine zufällig ein Stein auf den Kopf gefallen?«, erkundigte sich Pia.
Alica streckte ihr feixend die Zunge heraus, setzte sich aber trotzdem in Bewegung, bevor sie zu drastischeren Argumenten greifen musste, und sie verließen das Zimmer und nur einen Moment später das Haus.
Die vier Indiowachen, die Kukulkan auf dem Dach postiert hatte, folgten ihnen zwar in diskretem Abstand, ließen es sich aber nicht nehmen, sie sowohl das kurze Stück über das Dach alsauch die Treppe hinunter zu eskortieren, obwohl Pia nicht entging, wie schwer es den kleinwüchsigen Männern fiel, die viel zu hohen Stufen zu überwinden. Sie blieben erst stehen, als sie das Gebäude durchquert hatten und auf den großen Platz hinaustraten – wo sie allerdings sofort von einem zweiten und noch viel größeren Trupp in Empfang genommen wurden, diesmal mindestens ein Dutzend Köpfe stark. Pia ertappte sich bei dem hässlichen Gedanken, ob sie vielleicht nicht die Einzige in dieser Stadt war, die sich insgeheim als Gefangene betrachtete, war aber zugleich auch viel zu aufgeregt, um diesen Gedanken zu Ende zu denken. Jesus war wach, und das war gerade das Einzige, was sie wirklich interessierte. Ein ganz kleines bisschen hatte sie sogar Angst davor, ihn wiederzusehen – aber auch diesem Gedanken erlaubte sie nicht, vollkommen Gestalt anzunehmen.
Alica führte sie in dasselbe fensterlose Gebäude, in dem sie Jesus das letzte Mal gesehen hatte. Obwohl es draußen jetzt heller war, war es hier drinnen nicht nur überraschend kühl, sondern auch dunkel, und Pia fiel erneut der üble Geruch auf, der in der Luft hing. Etwas wie Weihrauch, aber durchdrungen von etwas Unangenehmem und Totem. Vielleicht war das hier so etwas wie das Gegenstück zu einem Krankenhaus in ihrer Welt, und diese Wände hatten einfach zu viel Leid und Schmerz gesehen, als dass man es jemals ganz abwaschen konnte.
Hinter dem Perlenvorhang standen diesmal keine Schattenelben Wache, sondern zwei kleinwüchsige Indiokrieger, die zwar rasch zurücktraten, um sie vorbeizulassen, aber dennoch etwas hatten, was sie an Gefängniswärter erinnerte. Etwas stimmte hier nicht, und sie musste dringend mit Alica darüber sprechen.
Aber nicht jetzt.
Im allerersten Moment. erschrak sie fast enttäuscht, als sie Jesus sah. Nichts schien sich verändert zu haben. Er lag auf demselben steinernen Bett, auf dem sie ihn das letzte Mal gesehen hatte, trug dieselben zerrissenen Kleider und sah mindestens genauso krank aus. Als er jedoch das Geräusch des Vorhangs hörte,stemmte er sich auf die Ellbogen hoch, und ein schwaches Lächeln huschte über sein Gesicht.
»Jesus!« Pia überwand das letzte Stück mit einem einzigen Schritt und schubste ihn kurzerhand zurück, als er sich weiter aufsetzen wollte. »Liegen geblieben! Und keine Sorge, ich spare mir die dumme Frage, wie du dich fühlst.«
»Aber ich beantworte sie trotzdem. Miserabel.«
Genauso sah er auch aus, dachte Pia bedrückt. Vielleicht war es ganz gut, dass es hier drinnen so dunkel war – so hatte sie Zeit, sich an seinen Anblick zu gewöhnen. Er trug nicht nur noch immer dieselben zerrissenen Kleider wie vor drei Tagen. Was immer sie
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