Elfenzorn
hierhergelangen, weil es ihn nicht mehr gibt.«
Das war ziemlich dumm, und sie hörte es sogar selbst. Doch sein Blick veränderte sich abermals. Er ging zwar nicht so weit, nun seinerseits nach ihrem Arm zu greifen, aber sie wusste auch, dass er ihre Hand nun nicht mehr abstreifen würde. Sein Widerstand begann zu zerbrechen; vielleicht weil er alles das, was sie ihm so unbeholfen zu erklären versuchte, ohne auch nur annähernd die richtigen Worte zu finden, tief in sich schon längst wusste.
»Ja, und jetzt ist er tot, und ich dachte eine Zeit lang selbst, dass ich in dir vielleicht nur sehe, was ich mit ihm verloren zu haben glaubte«, führte sie nun den Satz zu Ende, den auszusprechen sie ihn gerade gehindert hatte ... nun ja, so ungefähr. »Aber das stimmt nicht. Ich habe in ihm gefunden, was ich in dir gesucht habe, vom allerersten Tag an. Aber jetzt ist es da. Das kannst du mir glauben oder nicht, aber es ist so.«
»Wie du gerade selbst gesagt hast.« Er nickte. »Die letzte Bemerkung war überflüssig.«
Pia starrte ihn an und wusste weder, was sie dazu sagen, noch, was sie von dieser Bemerkung halten sollte. Schließlich stand sie mit einem Ruck auf, drehte sich halb herum und ging, und als sie zwei Schritte weit gekommen war, räusperte sich Jesus unecht und sagte: »Erhabene?«
Pia blieb stehen, fuhr erneut zu ihm herum und starrte ihn aus schmalen Augenschlitzen an. »Ich habe dir gesagt, was passiert, wenn du mich noch ein einziges Mal so nennst!«
»Ich weiß«, erwiderte Jesus. Er stand ebenfalls auf. Da war etwas in seinem Blick, was sie nicht deuten konnte. »Genau deshalb habe ich es ja getan.«
Er machte eine Kopfbewegung zum hinteren Ende der Kolonne. »Was meint Ihr, Erhabene – könnt Ihr Euch noch so lange damit zurückhalten, bis wir in Eurem Wagen sind?«
XXVI
D raußen musste es wieder Nacht sein. Wie lange, wusste sie nicht, aber durch die Plane über ihr drang jetzt kein Sonnenlicht mehr, und auch die Geräuschkulisse hatte sich geändert. Da waren noch immer das schwere Kollern der großen Räder, das Knarren und Ächzen der Wagen, das Geräusch der Hufschläge und die mannigfaltigen anderen Laute, die eine so große Karawane unweigerlich verursachte, aber dahinter herrschte nur Stille.
Es musste sogar tief in der Nacht sein, und Pia wunderte sich ein bisschen. Sie hatten nur noch eine weitere Rast von wenig mehr als einer Stunde eingelegt, und die Zugtiere mussten mittlerweile genauso erschöpft sein wie die Pferde ihrer Eskorte von Schattenelben. Trotzdem hatte Alica bisher keine Anstalten gemacht, eine weitere Pause einzulegen. Sie musste es wirklich sehr eilig haben, zurück nach Chichen Itza zu kommen. Oder wohin auch immer.
Pia verscheuchte diesen unangenehmen Gedanken (oder versuchte es wenigstens) und dachte lieber wieder an die zurückliegenden Stunden. Das waren deutlich angenehmere Erinnerungen; vielleicht ein bisschen unanständig, wie sie sich ohne eine Spur von schlechtem Gewissen oder gar Reue eingestand, aber trotzdem angenehm. Vielleicht hatte Alica mit dem einen oder anderen, das sie dann und wann von sich gab, ja doch nicht ganz unrecht …
Ihre Hand tastete verschlafen nach links und suchte nach Lion, fand aber nur noch eine schwache Erinnerung an seine Wärme auf der Matratze neben sich. Träge öffnete sie die Augen, stemmte sich auf die Ellbogen hoch und drehte erst dann den Kopf, damit sich ihre Augen von dem überzeugen konnten, was ihr ihr Tastsinn schon längst verraten hatte. Lion war nicht mehr da.
Er konnte noch nicht lange fort sein, denn immerhin war das Bett noch warm, und ganz gewiss gab es einen ganz harmlosen Grund für seine Abwesenheit. Vielleicht hatte ihn ja nur ein menschliches Bedürfnis hinausgetrieben, vor dem nicht einmal Superhelden und Leibwächter von Elfenprinzessinnen gefeit waren, oder er war einfach nur aufgestanden, um sich ein wenig die Beine zu vertreten. Immerhin hatten sie den gesamten Rest des Vormittages hier drinnen verbracht, den kompletten Nachmittag und auch noch einen guten Teil des Abends, bevor sie schließlich vollkommen erschöpft eingeschlafen waren.
Andererseits, dachte sie träge, wenn er nach diesem Tag noch immer genug Energie hatte, um spazieren zu gehen, dann sollte sie vielleicht ein ernsthaftes Wörtchen mit ihm reden ...
Pia verzog zwar flüchtig die Lippen bei diesem Gedanken und musste sogar ein albernes Kichern unterdrücken, aber eine ganz sachte Spur von Besorgnis blieb. Sie konnte es
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