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Elfenzorn

Elfenzorn

Titel: Elfenzorn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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gesamten Kräfte gereicht, so unvorstellbar groß sie auch sein mochten –, aber es hätte durchaus in ihrer Macht gelegen, ihm die Schmerzen zu nehmen; und (viel schlimmer) das Entsetzen, das der wahre Grund für sein gelähmtes Schweigen war. Aber das hätte sie zusätzliche Kraft gekostet, Kraft, die sie bitter nötig brauchte, um Jesus hier herauszuschaffen. Es war eine grausame und durch und durch unmenschliche Wahl, die sie treffen musste. Aber sie traf sie und schüttelte nur noch einmal den Kopf.
    »Ja, das habe ich mir schon gedacht«, sagte Gonzales. Er klang auf eine sonderbare Art enttäuscht und zugleich erleichtert, seufzte noch einmal und zog etwas aus der Kitteltasche, das wie eine Kreuzung aus einem altmodischen Walkie-Talkie undeinem umso moderneren Handy aussah. Er hielt es an die Lippen, drückte die Sprechtaste aber noch nicht, sondern fuhr zu Pia gewandt fort: »Sie und Ihr Freund sollten jetzt verschwinden. Der Schuss ist garantiert gehört worden. Wahrscheinlich ist der Wachschutz schon auf dem Weg hierher. Ich möchte nicht noch mehr Verletzte und Tote in meinem Krankenhaus.«
    Pia nickte nur stumm und vermied es auch ganz bewusst, Toni noch einmal anzusehen. Sie fühlte sich sehr schuldig.
    Das wurde auch nicht besser, als sie sich zu Jesus herumdrehte, der gerade dabei war, den toten Claudio aus seinen Kleidern zu schälen. Hose und Socken hatte er bereits an, und jetzt versuchte er gerade, mit leicht angewidertem Gesicht in das blutbesudelte Hemd des Toten zu schlüpfen. Pia kam das, was er tat, so falsch vor, dass sie sich beherrschen musste, um ihn nicht davon abzuhalten; und das nicht nur, weil die Kleider Jesus’ trotz Claudios hünenhafter Gestalt um mehrere Konfektionsgrößen zu klein waren. Es sah ziemlich lächerlich aus, aber Pia tröstete sich damit, dass er in rosa Riesenpampers vermutlich noch deutlich mehr Aufsehen erregt hätte.
    Statt irgendetwas zu sagen, wandte sie sich noch einmal zu Peralta um.
    »Sind sie verletzt?«, fragte sie.
    Peralta antwortete nicht, sondern starrte sie nur aus großen Augen an. Pia war nicht sicher, dass er ihre Worte überhaupt gehört hatte. Achselzuckend ging sie vor ihm in die Hocke, griff in seinen Mantel und fand auf Anhieb, was sie vermutet hatte: eine hastig, aber sehr stabil aus dünnen Metallplatten und Lederstreifen improvisierte Messerscheide, die in der Innentasche seines Mantels steckte. Sie hätte sich auch nicht vorstellen können, dass Peralta so leichtsinnig gewesen wäre, die rasiermesserscharfe Waffe einfach so einzustecken und sich bei der ersten unvorsichtigen Bewegung selbst damit aufzuspießen.
    Behutsam schob sie den Dolch hinein, wickelte eines der schmalen Lederbänder ab und benutzte ihn als Gürtel, den siesich um die Hüfte knotete. Nach dem, was diese schreckliche Waffe gerade vor ihren Augen angerichtet hatte, sollte das genaue Gegenteil der Fall sein – aber sie fühlte sich deutlich sicherer, als sie das Gewicht des Elfendolches an der Hüfte spürte.
    Sie wollte aufstehen, überlegte es sich aber dann noch einmal anders und griff erneut in Peraltas Mantel, um seine Brieftasche zu nehmen. Sie quoll nicht ganz so über vor Bargeld, wie sie insgeheim gehofft hatte, enthielt aber ein hübsches Sümmchen, das sie ohne die Spur eines schlechten Gewissens einsteckte. Die geplünderte Brieftasche ließ sie achtlos fallen. »Tut mir leid, Onkel José«, sagte sie, »aber ich bin nun mal eine Diebin.«
    Sie stand endgültig auf und drehte sich ungeduldig zu Jesus um. Er war mittlerweile mit seiner Leichenfledderei fertig und sah in der viel zu kleinen Jacke genauso lächerlich aus, wie sie befürchtet hatte. Er war klug genug gewesen, sie nicht zu schließen, aber Pia zweifelte trotzdem nicht daran, dass sie bei der ersten unvorsichtigen Bewegung aus den Nähten platzen würde.
    Gonzales sprach mit leiser, sehr schneller Stimme in sein mutiertes Handy, ohne Jesus und sie dabei auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen. Pia fragte sich ganz ernsthaft, ob er vielleicht gerade dabei war, den Wachschutz zu rufen, kam aber zu dem Schluss, dass das wahrscheinlich auch keine Rolle mehr spielte, und bedeutete Jesus nur mit einer ungeduldigen Geste, sich zu beeilen. Er nickte zwar, wandte sich aber nicht zur Tür, sondern ließ sich noch einmal in die Hocke sinken, um Claudios Magnum aufzuheben. Als er sich wieder aufrichten wollte, stockte er mitten in der Bewegung, presste die Hand gegen die Seite und sog scharf die Luft

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