Elfenzorn
schneller zu laufen, ohne direkt zu rennen (was mit Jesus’ Gewicht auf ihrer Schulter ohnehin gar nicht möglich gewesen wäre), aber es war bereits zu spät. Sie musste nicht noch einmal hinter sich sehen, um zu wissen, dass sich der Polizist endgültig umgedreht hatte und ihnen folgte.
»Habe ich dir schon gesagt, dass du mir allmählich unheimlich wirst, Pia?«, fragte Jesus neben ihr. Das sachte Zittern in seinen Worten passte nicht zu ihrer Wahl, und das Gewicht auf ihrer Schulter nahm schon wieder zu. Er verbrauchte die Kraft fast schneller, als sie sie ihm geben konnte. Warum gab sie nicht einfach auf ? Es war vorbei, so oder so. Wenn sie jetzt kapitulierte, dann hatte Jesus vielleicht noch eine winzige Chance, mit dem Leben davonzukommen.
Alles, was dieser Gedanke in ihr auslöste, war Trotz.
Sie biss die Zähne zusammen, drängte sich durch die immer noch größer werdende Menge und entdeckte einen rechteckigen Bereich verlockender Dunkelheit vielleicht fünfundzwanzig oderdreißig Meter entfernt. Vielleicht nur ein Schatten, vielleicht aber auch das Versteck, das sie so dringend benötigten.
Wozu?, flüsterte eine Stimme hinter ihrer Stirn. Damit Jesus sich darin verkriechen kann wie ein sterbendes Tier in seiner Höhle?
Sie brachte sie ärgerlich zum Schweigen, rückte Jesus’ Gewicht auf ihrer Schulter zurecht und widerstand nur mit Mühe dem Impuls, sich herumzudrehen und nach ihrem grauhaarigen Verfolger Ausschau zu halten. Die Kraft, die sie dafür gebraucht hätte, verwandte sie lieber darauf, noch ein bisschen schneller zu gehen und den Schatten zwischen den hell erleuchteten Schaufensterfronten anzusteuern.
Pia hätte vor Erleichterung beinahe laut gejubelt. Es war nicht nur ein Schatten oder ein zurückgesetzter Eingang, sondern ein schmaler Gang, der zu einem Hinterhof führte, vielleicht zur Straße auf der Rückseite des Blocks. Ganz egal wohin. Sie hatten es geschafft.
Pia sah nun doch über die Schulter zurück, und gerade in dem Moment, in dem Jesus und sie in den Schatten verschwanden, tauchte der Grauhaarige aus der Menschenmenge hinter ihnen auf, blieb stehen und begann sich sehr misstrauisch in alle Richtungen umzusehen. Aber sie hatten ausnahmsweise Glück. Er sah nicht direkt zu ihnen hin, und bevor er seine Kopfbewegung beenden konnte, waren sie vollends in der schmalen Durchfahrt verschwunden.
Es war so dunkel hier drinnen, dass sie ihren magischen Schutz nicht brauchte, um unsichtbar zu werden. Ihre Schritte erzeugten unheimliche Echos auf dem harten Boden. Es roch nach feuchtem Beton und ganz sacht nach Katzenkot, und die seltsame Akustik hier drinnen verwandelte den Lärm der Polizeisirenen und das aufgeregte Raunen der immer noch wachsenden Menschenmenge in etwas Fremdartiges und sehr Bedrohliches. Aber es waren nur ihre Erinnerungen, die ihr einen Streich spielten. Wände und Boden bestanden hier aus Beton, nicht aus bröckeligem Ziegelstein oder Lehm und Stroh, und das einzigÜbernatürliche weit und breit war sie selbst. Trotzdem erinnerte sie dieser finstere Tunnel an nichts so sehr wie an die schmalen Gassen von WeißWald, in denen sie so viele Schrecken erlebt hatte.
Und es gab noch eine Gemeinsamkeit.
Der Gang endete nach einem knappen Dutzend Schritten vor einer geschlossenen Tür.
Sie bestand aus grau lackiertem Metall, statt aus morschen Brettern, und sie hatte anstelle eines einfachen Riegels ein modern aussehendes Sicherheitsschloss. Es gab auch keine Ritzen, durch die das Mondlicht drang, sondern nur einen kaum fingerbreiten Spalt, wo sie nicht ganz bündig unter der Decke abschloss. Pia rüttelte prüfend daran, aber die Tür erwies sich als genauso massiv, wie sie aussah. Obwohl sie mit aller Kraft an ihrem Knauf zerrte, zitterte sie nicht einmal.
Enttäuscht machte sie kehrt, blieb nach zwei Schritten wieder stehen und fragte sich nicht zum ersten Mal, was sie dem Schicksal eigentlich getan hatte, ihr so übel mitzuspielen. Sie fand auch jetzt keine Antwort darauf und ging lieber weiter, bevor Jesus noch auf die Idee kam, dieselbe Frage laut zu stellen. Aber anscheinend war es schon zu viel gewesen, diese Frage auch nur zu denken . Das Schicksal (oder wer auch immer) hatte durchaus noch die eine oder andere Überraschung auf Lager.
Sie waren noch zwei Schritte vom Anfang der Gasse entfernt, als eine schattenhafte Gestalt vor ihnen auftauchte und ihnen den Weg vertrat. Der grelle Strahl einer kleinen, aber ungemein starken Taschenlampe richtete sich
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