Elfenzorn
alles auf eine Karte und zog Jesus hinter sich her auf die zerborstene Schaufensterscheibe zu. Dahinter waren mittlerweile fast ein DutzendStreifenwagen aufgefahren, und mindestens dreimal so viele Männer. Selbst unsichtbar musste es so gut wie unmöglich sein, dort durchzukommen. Aber sie hatten keine Wahl. Pias Unruhe wuchs. Irgendetwas … geschah . Sie konnte nicht sagen, was. Aber es war nichts Gutes.
Sie schafften es aus dem zerborstenen Fenster – beinahe jedenfalls. Das Geschäft füllte sich weiter mit Männern, und gerade als sie auf die Straße hinaustreten wollten, prallte sie gegen einen älteren Polizisten, und das so hart, dass der Mann ins Stolpern geriet und um ein Haar in die Reste der Glasscheibe gestürzt wäre, die wie die Zähne eines mythischen Kristalldrachen aus dem Fensterrahmen ragten. Mit einem gewagten Schritt fand er sein Gleichgewicht im letzten Moment wieder, fuhr wütend herum und riss dann verblüfft die Augen auf, als er niemanden sah, den er anschreien konnte.
Vielleicht.
Vielleicht aber doch.
Pias Herz begann schneller zu schlagen, als sich der Blick des Mannes so direkt auf ihr Gesicht richtete, dass es unmöglich ein Zufall sein konnte.
Den verwirrten Ausdruck in seinen Augen hatte sie schon bei anderen gesehen, aber der Anteil von Misstrauen in seinem Blick war deutlich größer. Er sah etwas, begriff sie. Noch konnte er mit diesem Etwas so wenig anfangen wie alle anderen vor ihm, die sie auf dieselbe Weise angesehen hatten, aber ihr Schutz wurde immer dünner.
Bevor die Schatten sie gänzlich im Stich lassen konnten, wich sie hastig ein paar weitere Schritte vor dem Mann zurück und sah sich um. Die Straße schien vor Streifenwagen mittlerweile überzuquellen. Es mussten zwanzig sein, wenn nicht mehr, die einen halbrunden Belagerungsring um die zerborstene Schaufensterfront bildeten. Aufgeblendete Scheinwerfer und zahllose zuckende blaue und rote Lichter machten es fast unmöglich, etwas zu erkennen, und als wäre das alles noch nicht genug, kamenvon rechts und links immer noch weitere Streifenwagen heran, und zu dem Helikopter am Himmel hatte sich inzwischen noch ein zweiter gesellt.
»Ein bisschen viel Aufwand, nur weil wir falsch geparkt haben, oder?«, murmelte Jesus; allerdings erst, nachdem sich der misstrauische Polizist umgewandt hatte und gegangen war. Wenn auch nicht annähernd so weit, wie Pia es gern gehabt hätte. Eigentlich war er nur ein paar Schritte gegangen und dann wieder stehen geblieben, und als hätte er ihren Blick gespürt, drehte er sich genau in dieser Sekunde herum und sah noch einmal in ihre Richtung; beinahe noch misstrauischer.
Sie blickte sich hastig um, entdeckte eine Lücke zwischen den Polizeiwagen, die gerade breit genug war, um unbemerkt hindurchzuschlüpfen (wenigstens solange sie unsichtbar waren), und bemerkte etwas, das ihr zum ersten Mal wieder Hoffnung gab: Hinter der Wagenburg entstand allmählich ein zweiter, lockererer Ring aus Streifenwagen, aber dahinter hatten sich bereits die ersten Neugierigen eingefunden, die nicht mehr damit zufrieden waren, von den Fenstern ihrer Wohnungen aus zuzusehen. Wenn ihr magischer Mantel sie noch bis dahin schützte, hatten sie eine Chance.
Er hielt lange genug durch. Aber Jesus nicht.
Ohne Probleme erreichten sie die löchrige Absperrkette der Polizei, schlüpften hindurch und mischten sich unter die Schaulustigen, und Pia spürte, wie Jesus’ Kräfte versagten, noch bevor er selbst es merkte. Sie griff auch mit der zweiten Hand zu, erntete einen verblüfften Blick aus seinen Augen und wäre im nächsten Moment fast unter seinem Gewicht zusammengebrochen, als seine Knie unter ihm nachgaben und sie plötzlich fast sein gesamtes Körpergewicht halten musste. Ihr Schattenmantel zerriss, und zumindest einer der Umstehenden musste gesehen haben, wie Jesus und sie aus dem Nichts auftauchten, denn seine Augen wurden groß, und er setzte dazu an, etwas zu sagen.
Pia kam ihm zuvor (nicht ganz freiwillig), indem sie unterJesus’ Gewicht ächzend in die Knie ging und einen halben Schritt zur Seite machte, um nicht ganz zu stürzen. Der grauhaarige Mann starrte sie immer noch vollkommen fassungslos an, aber er reagierte trotzdem sofort, machte einen Schritt auf sie zu und griff nach Jesus’ anderem Arm. Er war alt, aber dennoch sehr stark, doch auch er wankte unter dem Gewicht des Zwei-Meter-Hünen und musste sein Gleichgewicht verlagern, um nicht zusammen mit Pia und Jesus zu Boden zu gehen.
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