Elia Contini 03 - Das Verschwinden
Postkarten-Schweizer-Dorf gibt es Ressentiments und Ängste, gut gepflegte, einsatzbereite Waffen, Zimmer, die niemand zu öffnen wagt, und Leichen im Keller. Giovanni sah Natalia den Waldweg entlang gehen, und es schnürte ihm die Kehle zusammen. Sie sollten nicht hier sein, es war nicht fair, dass man ihnen alle Sorglosigkeit genommen hatte.
»Was ist denn?«, fragte Natalia, sich umdrehend. »Stimmt was nicht?«
»Hast du Bescheid gesagt, dass wir hier sind? Hast du’s dem Anwalt gesagt, deinem Vormund?«
»Ja, er war nicht erfreut, aber das macht nichts.«
Giovanni runzelte die Stirn. »Wie – er war nicht erfreut? Was hätte er denn dagegen?«
»Ich weiß nicht.« Natalia zuckte die Achseln. »Er findet es reine Zeitverschwendung, und wir sollen uns von Contini fernhalten, weil er spinnt.«
Sie waren vom Ferienhaus ihrer Eltern aufgebrochen, das direkt am Waldrand stand, und Natalia zwang sich, dieselben Wege zu gehen, die sie – wahrscheinlich – in der Nacht des Verbrechens genommen hatte.
Es war stockfinster gewesen, als sie vor dem Mörder geflohen war, und sie hatte bei ihrer Flucht durch den Wald nicht auf die Richtung geachtet. Aber die Erinnerung kam allmählich wieder in Gang und gab ihr neue Anhaltspunkte, wie unerwartete Geschenke kehrten die Wörter zurück: das Bild von Wasser (WILDBACH GEBIRGSFLUSS TRESALTI), eine Uferböschung (STEILHANG ABWÄRTS), Papiere in ihrer Hand (DOKUMENTE RAUCH ANGST) und das Gesicht eines Mannes über dem leblosen Körper ihrer Mutter (SAVI MÖRDER TOD). Aber da war noch etwas, das sie nicht zu fassen bekam …
»Es war bestimmt gut, dass wir hergekommen sind«, sagte Giovanni. Er betrachtete sie verstohlen von der Seite.
»Ich erinnere mich … jetzt weiß ich’s wieder. Ich habe die Papiere versteckt, hier ganz in der Nähe. Am Wasser.«
Natalia blieb stehen. Ihre Wangen waren gerötet, und ihre Lippen zitterten kaum merklich.
Giovanni berührte leicht ihren Arm. »Alles okay?«
»Ja, es … es ist schwer zu erklären. Die Wörter kommen wieder. Es ist ein bisschen so, wie wenn du lang mit verbundenen Augen herumgelaufen bist, und dann nimmt man dir die Binde ab, und alles ist ganz komisch.«
Sie gingen weiter. Es ging steiler bergauf. Irgendwann merkte Giovanni, dass Natalia zurückgeblieben war, und wartete am Rand einer Lichtung auf sie. Als sie ihn einholte, fragte er: »Was ist? Ist dir wieder was eingefallen?«
»Nein.« Natalia hielt ihr Telefon hoch. »Ich bin stehen geblieben, weil der Richter Bonetti angerufen hat.«
»Ach so? Was wollte er denn?«
»Corrado hat ihm mitgeteilt, dass wir hier sind, und er wollte sich vergewissern, dass Contini nicht dahintersteckt. Ich habe ihm gesagt, dass ich mich allmählich erinnere, was am ersten August passiert ist. Am Ende war’s ihm dann doch ganz recht.«
»Siehst du?« Giovanni grinste. »Man muss ihnen nur Bescheid sagen, dann haben sie gar nichts dagegen.«
»Er hat sogar gemeint, er hat eine Idee, und vielleicht kann er uns helfen, die richtige Stelle zu finden.«
»Er? Wie soll das denn gehen, er hat doch keine Ahnung, was in der Nacht war?«
»Weiß ich auch nicht. Er sagt, er ist aus beruflichen Gründen in der Nähe, und wenn wir auf ihn warten, begleitet er uns hinauf zu dem verlassenen Dorf.«
»Valnedo«, sagte Giovanni. »Wer weiß, was ihm eingefallen ist …«
»Vielleicht hat ihm Mankell irgendwas gesagt, oder vielleicht ist es was, das ich gesagt habe und nicht mehr weiß.«
»Kann sein. Was hast du vor?«
»Weiß nicht. Er fragt, ob du runterkommen kannst, um ihn im Dorf abzuholen oder ihm den Weg zu erklären.«
Giovanni schnaufte widerwillig und setzte seinen Rucksack ab. Er zog die Wasserflasche heraus, nahm einen Schluck, reichte sie Natalia. Dann sagte er: »Also ich finde, wir sollten nicht zu viel Zeit verlieren. Geh du doch schon mal weiter nach Valnedo, dort kannst du dann auf uns warten.«
»Und du?«
»Ich muss es wohl so machen, wie der Richter will – ich warte im Dorf auf ihn. Dann steigen wir auf dem anderen Weg nach Valnedo auf, das geht schneller.«
»Okay.« Natalia schraubte die Flasche zu. »Aber dann musst du die doppelte Strecke gehen.«
»Macht nichts.«
Giovanni verstaute die Flasche im Rucksack, setzte ihn wieder auf und machte sich auf den Weg bergab. Natalia blieb allein. Sonnenstrahlen drangen durchs Laub und zeichneten Lichtmuster ins Gras, zart wie Spinnweben. Sie blieb noch ein Weilchen stehen, lauschte dem Hauch des Windes und den
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