Elia Contini 03 - Das Verschwinden
sein.
Aber irgendwann ist die Zeit des Schweigens wieder vorbei. Contini strich dem Kater, der in der Hängematte schlief, über den Kopf und verließ das Haus. Auf der Fahrt ins Tal versuchte er sich einen Aktionsplan zurechtzulegen. Natalia war mit Giovanni in Corvesco und vorläufig in Sicherheit. Er wollte sie nicht anrufen und ihr womöglich Angst einjagen; jetzt ging es vor allem darum, Bonetti im Auge zu behalten.
Auch wenn er sie nicht beweisen konnte, war er doch überzeugt, dass seine Hypothese richtig war. Dieser kleine Fuchs, der um einen Sekundenbruchteil zu spät gekommen war, hatte ihn auf die Idee gebracht und ihm den Motor hinter den Morden gezeigt: einen Mann, der einen Fehler begangen hat, der in die eigenen Abgründe hinabgestiegen ist, weil er sich nicht beherrschen konnte.
Il te suffisait que je t’aime . Aznavours Stimme von der Kassette begleitete seine Gedanken. Es war sinnlos, an Francesca zu denken oder Zukunftspläne zu schmieden. Fais comme au temps des années d’or, et souviens-toi qu’hier encore il te suffisait que je t’aime . Jetzt zählten nur noch Bonetti und die Gefahr, in der Natalia schwebte. Sinnlos auch, sich zu überlegen, wie er Bonetti gegenübertreten sollte. Er würde improvisieren müssen.
Während sie nach Valnedo aufstieg, dachte Natalia über falsche Erinnerungen nach. Das Gedächtnis, das ihr nie gehabte Erlebnisse vorgaukelte: Vielleicht war es genau das, woran sie litt. Es mochte die Erklärung dafür sein, weshalb es ihr nicht gelang, den Tod ihrer Mutter als einzelnes Ereignis aus der Erinnerung herauszulösen. Es lag nicht daran, dass ihr die Worte fehlten: Sie war durchaus in der Lage, ihren Schmerz über den Tod des Vaters auszudrücken; sie nannte ihn Einsamkeit und Trauer und Wehmut . Aber dann die Mutter, die jetzt mit den Begriffen rund um das Tukan, mit denen sie sich beschäftigt hatte, verknüpft war: Prostituierte, Betrug, Gewalt, Ärzte .
Vielleicht fehlte einfach das richtige Wort?
Ihre Mutter war ermordet worden, erschlagen von dem Mann, der so wild schnaufte, einem Mann, der schrie. Aber es war noch immer so, dass die Bilder von ihrer Flucht in den Tod der Mutter mündeten, als wäre sie mehr als einmal ermordet worden. Wie konnte das sein? Woher kam dieses Hirngespinst?
Der Weg führte um einen Felssporn und dann diagonal durch einen Jungwald, an den die weite Lichtung mit der Rochuskapelle grenzte, und gleich dahinter lagen die Ruinen von Valnedo. Natalia ging mit hellwachen Sinnen darauf zu. Sie war sich selbst auf der Spur, suchte die Natalia, die im Wald gelebt, die alle Verbindungen zur Welt durchtrennt hatte.
Ich war hier.
Ich konnte nicht reden, ich hatte überhaupt keine Erinnerung.
Sie hatte mit ihrem im Dorf gestohlenen Proviant in der Sakristei Zuflucht gesucht. Es schien zehn Jahre her zu sein, und dabei waren es nur ein paar Wochen. Von der Nacht in der Kapelle waren ein paar verschwommene Bilder geblieben, in die sich die Empfindung von Kälte und das Bedürfnis, sich zu verstecken, mischten.
Woher kam dieses Bedürfnis, wovor hatte sie Angst?
Vor der Kapelle war ein Brunnen; das Plätschern des Wassers war das alles beherrschende Geräusch und das einzige Zeichen von Leben ringsum. Abgesehen von der Vegetation natürlich, die nach und nach die Ruinen überwucherte. Natalia ging auf die Kapelle zu, trat ein, tauchte zwei Finger in die Weihwasserschale und bekreuzigte sich. Dann setzte sie sich in die letzte Bank und wartete.
Ein Geräusch draußen ließ sie aufhorchen. Die Augen gegen die Sonne zusammengekniffen, trat sie ins Freie, aber ringsum sah alles aus wie immer. Noch ein paar Jahre, und von dem Dorf ist nichts mehr übrig, dachte sie. Aber es konnten genauso gut hundert Jahre sein – was wusste sie denn?
Ihre Unkonzentriertheit ging ihr auf die Nerven. Jetzt waren es nicht mehr die Worte, die ihr fehlten, sondern die Kraft, zurückzudenken, sich zu erinnern. Sie dachte an Giovanni, der sich für sie ein Bein ausriss, und an den Richter Bonetti, der extra hier heraufkommen wollte, um sie zu unterstützen. Sie wollte sie nicht enttäuschen. Giovanni war ein Versprechen für die Zukunft, ein Gefühl, das sie in sich bewahren und vielleicht für bessere Zeiten aufheben konnte. Und der Richter, der sich krummgelegt hatte für sie. Corrado Bossi, der jetzt offiziell ihr Vormund war und immerhin der Anwalt ihrer Eltern gewesen war, stand ihr weniger nah: Er kümmerte sich nur um die bürokratischen
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