Elia Contini 03 - Das Verschwinden
hören.
»Natalia hat beobachtet, wie ein Mann mit ihrer Mutter gestritten und sie dann geschlagen hat. Sie flieht, und als sie wiederkommt, sieht sie ihre Mutter in ihrem Blut am Boden liegen, und daneben kauert der Mann, der sie umgebracht hat. Praktisch eine Verdoppelung der Erinnerung an die Gewalttat, als wäre der Mord zwei Mal passiert, und Natalia kann es nicht mehr erklären, sie kann nicht erzählen, was vorgefallen ist.«
»Contini, meine Zeit wird knapp.«
»Aber die Wahrheit liegt genau in diesem Schweigen: Natalia hat zwei verschiedene Männer gesehen! Erst Savi, der mit Sonia streitet und sie misshandelt. Als Sonia stürzt, merkt Savi, dass Natalia alles beobachtet hat, und rennt ihr nach, als sie wegläuft … bis er sie aus den Augen verliert. Er macht sich davon, fährt nach Hause, und als Natalia wieder zurückkommt, sieht sie einen anderen Mann, der sich über ihre Mutter beugt und ihr den Garaus macht … Das ist Natalias Schweigen, das ist es, was sie nicht sagen konnte!«
»Lassen Sie mich zusammenfassen: Savi habe also Sonia Rocchi zu Boden geworfen, aber nicht umgebracht. Und Sie meinen, dass er dann, nachdem ihm Natalia entwischt ist …«
»… sich schleunigst aus dem Staub gemacht hat. Vielleicht hielt er sich ja selber für den Täter, als er von Sonia Rocchis Tod erfuhr, wer weiß. In Wahrheit war am selben Abend auch der Richter Bonetti in Corvesco; vermutlich hat er sich heimlich angeschlichen und die Auseinandersetzung zwischen Sonia und Savi belauscht. Und als er Sonia auf dem Boden liegen sah und die belastenden Papiere auf dem Schreibtisch, konnte er nicht widerstehen und brachte sie um. In dem Moment kam Natalia zurück, und die entkam ihm dann samt der Dokumentation in den Wald.«
»Und Mankell? Weshalb hätte er dann auch Mankell umgebracht?«
»Vielleicht hatte der sich entschlossen, alles zu gestehen. Also ließ sich Bonetti – mit Savis Hilfe – den Trick mit dem Auto einfallen. Gefahren ist höchstwahrscheinlich Savi.«
»Aber warum hätte ihm Savi helfen sollen …«
»Er war erpressbar. Er hielt sich für Sonia Rocchis Mörder. Er konnte sich nicht weigern, Bonetti zu helfen, denn damit half er auch sich selber. Aber Bonetti wusste natürlich auch, dass er nie sicher war, solange Savi lebte und reden konnte.«
Der Kommissär schwieg. Contini meinte förmlich zu hören, wie De Marchi über diese Hypothese nachdachte. Sie war ziemlich gewunden, sie beruhte nicht auf stimmigen Beweisen, sondern auf ein paar Eingebungen – aber sie erklärte alles. Und rückblickend hatte Contini einen seltsam unklaren Eindruck von Bonetti: Von Anfang an war der über seine normalen Pflichten als Vorsitzender der Vormundschaftskommission weit hinausgegangen, ohne einen anderen Grund dafür erkennen zu lassen als eine vage Bekanntschaft mit Natalias Vater. In Wahrheit wollte er das Mädchen im Auge behalten.
De Marchi folgte wohl einem ähnlichen Gedankengang. »Sie wissen doch«, sagte er, »dass Bonetti mit den Rocchis befreundet war?«
»Befreundet ist wohl zu viel gesagt. Aber ihre Bekanntschaft dürfte mit ein Grund gewesen sein, weshalb Rocchi überhaupt erfuhr, dass Bonetti im Tukan verkehrte … und dass er Mädchen misshandelte.«
»Contini, ist Ihnen klar, dass Sie sich eine Anzeige wegen Verleumdung einhandeln könnten?«
»Und ist Ihnen klar, dass Bonetti nahe daran ist, völlig straffrei davonzukommen? Die Mädchen, die im Tukan gearbeitet haben, sind in alle Winde zerstreut. Niemand weiß was, oder anders: niemand redet. Andere, die etwas wussten, sind tot: Rocchi, Savi, Mankell. Nur Natalia lebt noch, Commissario, und ihr Gedächtnis kehrt Stück für Stück zurück, sie erinnert sich jeden Tag besser …«
Die Flugzeuge zeichneten weiße Streifen ins wolkenlose Blau. Auf den Straßen war kaum Verkehr, an den Ferienhäusern waren die Läden geschlossen. Doch auch wenn die Saison seit Mariä Himmelfahrt vorbei war und das Dorf in seinen Alltagsrhythmus zurückkehrte, hielt sich der Sommer noch im Grün der Berghänge und Bäume, in der strahlenden Sonne, dem blauen Himmel.
Giovanni schätzte die Ruhe, die säuberlichen Wege, die allgegenwärtige Ordnung. Corvesco war das Schweizer Dorf, wie es im Buch steht, die Postkartenversion des Schweizer Dorfs, und das ganz ohne Anstrengung – alles sah so aus, als sei es das Natürlichste der Welt. Vielleicht war es ja so. Warum aber schlichen sie dann durch den Wald und suchten nach Beweisen für einen Mord?
Auch im
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