Elia Contini 03 - Das Verschwinden
Angelegenheiten. Aber Bonetti, der zwar oft ein bisschen schroff war, hatte sich ihr Wohlergehen sichtlich zu Herzen genommen und war immer zur Stelle gewesen.
Sie musste daran denken, wie sie zurückgekommen war, nach ihrer Flucht in den Wald. An die Fragen des Kommissärs, der ihr zu erklären versucht hatte, dass ihre Mutter tot war. Und Bonetti, der sofort ungestüm dazwischengegangen war: He, nicht so hastig, lassen Sie das Mädchen doch erst mal ankommen … In dem Moment wurde ihr Kopf leicht, als wollte er sich von ihr lösen, und die Erde schwankte. Sie lehnte sich an die Kirchenmauer und wartete, dass der Schwindelanfall vorüberginge.
Damals, bei dieser ersten Befragung: Da hatte sie die Wahrheit gewusst.
Es war ihr nie klar gewesen, sie hatte geglaubt, sie habe es vergessen. Dabei hatte sie bei dieser Befragung die ganze Szene vor sich gesehen wie von einem Blitz erhellt; sie konnte nur nicht sagen , was sie sah, weil sie kein Wort herausbrachte. Nach der Frage des Polizisten und Bonettis Einmischung war es unvermittelt über sie hereingebrochen. Aber halb gelähmt vor Angst und Erschöpfung, wie sie war, hatte sie nicht denken können. Sie war dann ja auch eingeschlafen, und danach war sie Schritt für Schritt in den Alltag zurückgekehrt … und hatte vergessen, was sie wusste.
Was war ihr entfallen?
Die Erinnerung war zum Greifen nah, sie hörte wieder die Polizisten reden, auch Contini, sie sah wieder Bonettis und Giovannis besorgte Gesichter vor sich. Und genau in dem Moment, in dem sie meinte, den verlorenen Faden zu fassen zu bekommen, rollte irgendwo unter ihr ein losgetretener Stein bergab.
Zwei Wanderwege führten nach Valnedo; auf dem einen war sie gekommen, den anderen, eine felsige, steile Abkürzung, wollte Giovanni mit Bonetti nehmen. Vom Dorfrand aus konnte man sehen, wer die Abkürzung heraufkam.
Natalia spähte hinab und sah erst einmal niemanden. Nach einer Weile aber entdeckte sie den Richter Bonetti, der sich über den Felsgrat hievte. Natalia freute sich, dass sie so bald gekommen waren … bis sie merkte, dass Giovanni fehlte. Komisch, dachte sie, lehnte sich weit hinaus über die Mauer der letzten Ruine und spähte angestrengt hinunter. Aber es kam sonst niemand. Brenno Bonetti war allein, und er kam nach Valnedo herauf.
10
War das notwendig?
Aznavour, die Sonne, die durch die Frontscheibe fiel, das Brummen des Motors, die grünen und blauen Straßenschilder, die Häuser, die am Rand der Parkplätze aufgespannten Sonnenschirme – Contini, sonst oft so zerstreut, registrierte auf einmal jedes Detail. Aber er fuhr auch nicht wie sonst genussvoll langsam, sondern gab Gas, wo es ging. Fast ohne es zu merken.
Dabei bestand doch gar keine unmittelbare Gefahr.
Natalia war in Corvesco mit Giovanni und der Richter Bonetti in seinem Häuschen in Monte Carasso, in der Nähe von Bellinzona. Früher oder später würden sie aufeinandertreffen, denn Bonetti konnte sich nicht erlauben, mit dieser Ungewissheit zu leben. Sein Seelenfrieden hing von Natalias Erinnerung ab. Tag für Tag morgens aufstehen und sich fragen: Ist es heute so weit, dass sie sich erinnert, ist heute der Tag, an dem ich verhaftet werde? – Wer sollte das ertragen?
Nein, Bonetti war schon viel zu weit gegangen, um noch im letzten Moment innezuhalten und alles aufs Spiel zu setzen; er würde seinen Plan zu Ende führen. Um die schreckliche Anwandlung von Gewalt zu vertuschen, die ihn aus irgendeinem Grund überfallen hatte, vielleicht infolge einer ungewöhnlichen sexuellen Begegnung, verübte er eine Gewalttat nach der anderen. Er hatte mehrere Morde begangen, um seine Haut zu retten, und dabei immer alles auf eine Karte gesetzt; und zuletzt hatte er von seinem Amt profitiert, um Natalia zu überwachen, und systematisch alle Spuren seines Tuns verwischt.
Contini fuhr bei Bellinzona Nord von der Autobahn ab. Er hatte nicht telefoniert; er wollte den Richter lieber unvorbereitet antreffen. Er überlegte aber, Natalia anzurufen, freilich ohne ihr von Bonetti zu erzählen: nur um sich zu vergewissern, dass alles in Ordnung und dass sie wirklich in Corvesco war. Man konnte schließlich nie vorsichtig genug sein.
Er versuchte es, aber Natalia meldete sich nicht.
Macht nichts, dachte er, ich rufe später noch mal an. Das Wichtigste war jetzt, Bonetti im Auge zu behalten. Ihm zur Abwechslung mal zuvorzukommen.
Monte Carasso ist eine kleine Gemeinde im Bezirk Bellinzona. Man überquert einen Fluss und steht vor einer
Weitere Kostenlose Bücher