Elia Contini 03 - Das Verschwinden
gehört?
Giovanni zögerte nur einen Sekundenbruchteil, dann wusste er, was er zu tun hatte. Mit doppelter Geschwindigkeit stieg er weiter auf nach Valnedo. Vorläufig war es egal, ob er kapierte, was los war, für Zweifeln und Nachdenken war keine Zeit. Jetzt gab es nur eines: Er musste bei Natalia sein.
12
Valnedo
Natalia starrte Bonetti sekundenlang an, dann drehte sie sich um und rannte zum Dorf davon. Hinter sich hörte sie Steine unter den Füßen des Mannes davonrollen. Hinter sich. Wieder rannte sie vor ihm davon. Der Atem brannte ihr heiß in der Lunge, und in ihrem Gehirn drehte sich alles. Dieselben Wörter: renn, wie du kannst, fliehe weit und schnell. Schon wieder. Mit der Lunge und dem Gehirn.
Sie ahnte, dass sie es nicht rechtzeitig bis in den Wald schaffen würde, geschweige denn zu dem Weg am anderen Ende von Valnedo. Sie stolperte zwischen den verfallenen Häusern dahin, rutschte auf moosbewachsenen Steinen aus, verfing sich in Brombeerranken. Mit leerer Lunge, leerem Gehirn. Hinter sich hörte sie Bonettis Stimme: »Natalia! Natalia, wo willst du denn hin?«
Natalia stürzte durch die klaffende, halb in Schutt und Dickicht versunkene Türöffnung einer Ruine. Von innen betrachtet, waren die Wände eine prekäre Zuflucht, sie sahen aus, als könnten sie jeden Moment einstürzen. Aber hatten sie nicht Jahrhunderte überdauert und Stürmen, Schnee und wuchernder Vegetation standgehalten? Natalia kauerte sich in einer Ecke zusammen. In der Wand über ihr waren drei Löcher, die einmal Fenster gewesen waren. Natalia blickte hinauf.
»He, Natalia! Wo bist du? Warum läufst du weg?«
Der Boden war mit trockenem Laub übersät. Im Lauf der Zeit war das Erdreich gewachsen, und die Fenster, die jetzt auf Kopfhöhe waren, hatten wahrscheinlich einmal zum ersten Stock gehört. Natalia schloss die Augen, und es war, als würde sie mitgerissen. Sie hörte Bonettis Stimme nicht mehr. Als sei die Zeit vor Jahrhunderten stehen geblieben. Ein festes Haus, in wochenlanger Arbeit Stein um Stein erbaut. Der Geruch der Herdstelle, der Lehmfußboden und draußen die Geräusche der Tiere, die Stimmen der Frauen vor dem Haus …
Natalia riss die Augen auf und schüttelte wild den Kopf.
Sie durfte sich nicht gehen lassen. Valnedo war ein totes Dorf, schon lang. Sie waren alle gestorben, vor Jahrhunderten, niemand konnte ihr helfen. Vorsichtig näherte sie sich der Fensteröffnung und spähte hinaus. Bonetti stand mitten auf dem Dorfplatz.
»Hier bin ich!« Mit einem nervösen Lächeln sah er sich um. »Natalia, ich bin früher gekommen als gedacht! Wo steckst du denn?«
Natalia packte den Fenstersims. Das Mauerstück, das einmal Sims gewesen war. Eines Fensters, das jetzt nur noch ein Loch war. Die Füße auf dem Boden, die Hände an der Mauer.
»Natalia! Keine Angst, ich bin’s nur!«
Ein Mann auf dem Weg, der durchs Dorf führt. Alles ist eingestürzt. Alle sind tot, und nur er ist noch da, steht im hellen Sonnenschein.
»Warum versteckst du dich? Hier bin ich!«
Bonetti zog etwas aus seiner Hosentasche. Natalia kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können, und meinte eine Waffe zu erkennen. Bonetti ließ das Objekt in die Tasche seines Sakkos gleiten und zog das Sakko an. Dann begann er die Häuser zu kontrollieren. Er ging von einem zum anderen, trat ein, sah sich um. Systematisch. Er arbeitete sich vorwärts. Er näherte sich Natalias Versteck.
Also stimmt es, dachte Natalia. Also stimmt es wirklich, es ist keine falsche Erinnerung, kein Hirngespinst. Bonetti. Er. Bonetti hat meine Mutter umgebracht.
Er war es.
Bonetti hat meine Mama ermordet, und jetzt ist er hier und will mich umbringen.
Am Ende hatte die Wirklichkeit alle ihre Bemühungen übertroffen, das Gedächtnis wiederzuerlangen und zu erzählen, was geschehen war. Er war nicht mehr der Mann, der sie durch den Wald verfolgte, die namenlose Angst. Er war der Richter Bonetti, mit einer Pistole im Sack.
»Natalia, jetzt komm endlich raus … wir haben nicht ewig Zeit!«
Ein Haus nach dem anderen. Bonetti kam näher.
Fünf Ruinen trennten sie von ihm.
Natalia wandte sich vom Fenster ab und zur Tür. Vorsichtig spähte sie hinaus und sah, wie Bonetti das viertletzte Haus vor ihrem Versteck betrat. Ich muss weg, dachte sie, ich muss fliehen, mir irgendwas suchen, wo er mich nicht findet. Sie wich tiefer ins Haus zurück, und dabei stieß sie versehentlich an einen Schutthaufen, von dem ein paar Steine herabrollten. Deutlich
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