Elia Contini 03 - Das Verschwinden
es warten.
14
Zu spät
Natalia rappelte sich auf und wich in den finstersten Winkel des Hauses zurück. Der Schutt eingestürzter Mauern vermittelte eine Ahnung davon, wie die Zimmer einmal aufgeteilt waren. Sie ließ sich in die uralten Laubschichten sinken, und ein absurder Gedanke schoss ihr durch den Kopf: Wie eklig, das ist bestimmt alles voller Insekten. Dann musste sie beinahe hysterisch lachen: Als wären Insekten ein Problem, wenn dieser Mann, dieser Mörder, dieser … Sie zerbrach sich den Kopf nach dem Namen. Jetzt ließ auch das Gedächtnis sie wieder im Stich.
Brenno Bonetti. So hieß er.
Sie hörte ihn näher kommen, sie sah seine Silhouette in der Türöffnung. Sie versuchte sich zu konzentrieren, doch vor ihrem geistigen Auge zogen verwischte Bilder vorüber, wie in einem Fiebertraum. Giovanni hätte ihr helfen können, aber wo war er? Natalias Lider waren bleischwer, ihre Augen brannten, und sie hatte nur einen Wunsch: sie zu schließen, zu schlafen. Schlafen! Der Schlaf war eine warme Umarmung, war Trost und Geborgenheit.
Ab und zu schüttelte sie sich und riss entschlossen die Augen auf. Doch gleich fielen sie wieder zu, ihr Geist schweifte ab, und sie war weit fort. Wie im Traum nahm sie die Gegenwart dieses Mannes wahr. Dieses Bonetti, der den Raum betrat, in dem sie sich versteckt hatte. Sie hörte Zweige knacken und dürre Blätter rascheln. Zweige. Blätter. Manche Wörter kamen, andere glitten davon.
Er war da. Bonetti stand vor ihr. Er sah sie an. Natalia bohrte die Fingernägel in die Handflächen.
»Da bist du ja.«
Sie durfte nicht die Augen schließen! Sie musste wach bleiben, fliehen. Bonetti beugte sich über sie. Natalia hievte sich mühsam hoch, eine Hand an der Mauer. Draußen näherten sich unversehens Schritte. Sie blickten beide zum Fenster hinüber. Bonetti war schneller als sie.
Natalia sah seine Mundwinkel sich abwärts krümmen. Er trat einen Schritt zurück und fuhr mit der Hand in die Jackentasche.
Giovanni hoffte und bangte. Dass er nur nicht zu spät kam! Er hätte Zeit gebraucht, um nachzudenken, in Ruhe eine Entscheidung zu treffen. Was immer dort oben in Valnedo geschah – es war nicht harmlos, und die Zeit drängte: Continis Anruf hatte ihn über die Maßen beunruhigt.
Er rannte nicht, denn im Gebirge rennt man nicht; aber er ging mit der Flinkheit der Jugend. Das Herz schlug ihm bis in den Hals, und seine muskulösen Beine trabten geschmeidig.
Richter Bonetti war hinter Natalia her.
Es schien ihm undenkbar.
Andererseits hatte Giovanni in diesem Sommer manches erlebt, das ihm früher undenkbar erschienen wäre. Er hatte sich in ein Mädchen aus dem Wald verliebt, war in einen Mordfall hineingeraten, hatte sich mit einem ehemaligen Detektiv angefreundet. Und vielleicht war das noch nicht alles.
Kurz vor dem Dorf wurde er langsamer, um seine Kräfte zu schonen. Natalia war allein mit Bonetti. Er hatte das Gefühl, sie seit Jahren zu kennen und selbst über weite Entfernungen hin ihre Gedanken zu erraten. Das hatte ihn am meisten verblüfft – schon ganz am Anfang, als sie noch kein Wort gesprochen hatte, war ihm Natalias Schweigen wie Heimat erschienen, wie ein gastlicher Ort, an dem er sich zu Hause fühlte.
Und jetzt? Giovanni war voller Zweifel, und Antworten gab es nicht. Er überwand die letzte Stufe und stand auf dem Plateau von Valnedo.
Es war niemand zu sehen. Rasch ließ er den Blick über die Ruinen und Trümmerhaufen gleiten, die Buchen und Haselnussstauden, das Brombeergestrüpp über Mauerresten. Eilig ging er bis zur Mitte des einstigen Dorfplatzes und rief versuchsweise: »Natalia!«
Niemand antwortete. Doch aus dem Augenwinkel nahm er eine Bewegung wahr.
»Natalia, wo bist du?«
Aus einem Haus am anderen Ende des Dorfs trat ein Mann. Giovanni fuhr zusammen. Das war Bonetti.
»Giovanni, da bist du ja!«
Er lächelte, der Richter; er kam auf ihn zu und lächelte. Vielleicht hatte Contini sich ja geirrt, vielleicht war alles ein Missverständnis. Giovanni könnte so tun, als wäre nichts, und Bonetti freundlich begrüßen.
Und wenn aber Contini Recht hatte? Lieber kein Risiko eingehen. Er ging weiter bis zu einem Haus, dessen Wände noch standen, und fragte von der Türschwelle aus: »Wo ist sie denn?«
»Weiß ich nicht«, sagte Bonetti. »Als ich kam, war kein Mensch da.«
»Wir waren unten im Dorf verabredet.«
»Ja, aber ich wollte schon mal vorausgehen – ich bin ja viel langsamer als du.«
Während Bonetti sprach, kam er
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