Elia Contini 03 - Das Verschwinden
Und nach der Art, wie er sie gepackt und den Weg entlang vor sich hergestoßen hatte, rechnete sie mit dem Schlimmsten.
Sie sah alles, sie konnte sich alles vorstellen. Aber sie konnte nichts tun.
Wenn ein Begriff in ihrem Geist Gestalt angenommen hatte, konnte sie ihn nicht in Worte fassen: Sie wollte Giovanni zurufen, er solle fliehen, aber es fielen ihr alle möglichen Worte ein, die sie nicht brauchte – Druckerei, Wald, Feuerwerk, Tukan, Mama, Polizei, Fische, Regen, Postauto –, alle gleichzeitig, und was sie eigentlich sagen wollte, kam nicht.
Deshalb ließ sie sich von Bonetti bis zu Giovannis Versteck zerren und reagierte nicht, als Bonetti sie ins Haus schob. Sie sah, dass er die Pistole in der Hand hielt. Und dass er auf Giovanni zielte.
Und Giovanni flüchtete in einen Winkel.
Das alles geschah auf eine seltsam mechanische Weise – was daran liegen mochte, dass Natalia kein einziges Detail entging. Bonetti, der sie nicht losließ, herrschte Giovanni an: »Los, steh auf.«
Giovanni hob die Hände und sagte: »Bitte warten Sie …«
Aber die Mechanik lief unbeirrt weiter. Bonetti versetzte Natalia einen Stoß, der sie vorwärts stolpern und mit Giovanni zusammenprallen ließ. Schräge Sonnenstrahlen fielen durchs Fenster und warfen helle Streifen auf die Bruchsteinmauern.
»Ihr macht keinen Wank«, befahl Bonetti.
In dem Moment löste sich eine Gestalt aus dem Schatten, packte Bonetti von hinten und schleuderte ihn gegen die Wand, und Natalia erkannte verblüfft Contini. Die Überraschung kam so plötzlich, dass die Mechanik ins Stocken geriet.
Bonetti stieß einen erstickten Laut aus.
»Mach keinen Blödsinn«, sagte Contini leise.
»Aber …«
Contini hielt Bonetti an beiden Armen gepackt und zwang ihn, sich umzudrehen. Gleichzeitig fragte er über die Schulter: »Bei euch alles okay?«
»Ja«, antwortete Giovanni. »Natalia, du?«
Natalia nickte langsam. Sie empfand ein unwiderstehliches Bedürfnis, sich zu setzen. Die bleierne Müdigkeit, die sie befallen hatte, lähmte ihre Arme und Beine. Sie sah Giovanni an und sagte: »Gehen wir.«
»Ja.« Giovanni deutete mit einer Kopfbewegung zur Tür. »Lieber dort raus.«
Contini presste Bonetti gegen die Mauer, obwohl der gar keinen Widerstand leistete.
»Lassen Sie, Contini … ich gebe auf.«
»Die Pistole«, forderte Contini.
»Hier.« Bonetti reichte sie ihm. »Ich versichere Ihnen, dass ich nicht die Absicht habe, jemandem etwas zuleide zu tun.«
Contini nahm ihm die Waffe ab und trat einen Schritt zurück. Bonetti klopfte sein Jackett ab und sagte höflich: »Wollen wir uns draußen setzen?«
Contini ließ ihm den Vortritt, und Bonetti ging mit aschfahler Miene und hängenden Schultern voraus. Dann standen sie alle vier draußen im Sonnenlicht und sahen einander an.
»Haben Sie die Polizei verständigt?«, fragte Bonetti.
»Müsste bald kommen«, sagte Contini.
Natalia fragte sich, ob sie mit Bonetti reden sollte. Dieser Mann, der Mörder ihrer Mutter, hatte sich mit Gewalt in ihr Leben gedrängt und es auf den Kopf gestellt. Aber was hätte sie zu ihm sagen sollen? Sie starrte ihm nur sekundenlang in die Augen, dann wandten beide den Blick ab.
»Vielleicht«, sagte Natalia, noch ein wenig mühsam, aber unsäglich erleichtert, »weiß ich, wo die Papiere sind.«
Contini nickte nur.
»Und ich weiß jetzt auch wieder, dass Fotos dabei waren von misshandelten Mädchen. Und Zeugenaussagen. Meine Mutter hat mir davon erzählt.«
Die Worte kamen langsam, aber sie kamen. Es war nicht ganz leicht, die Kiefermuskeln und die Zunge zu bewegen, die schwer waren wie ihre Arme und Beine, aber sie bewegten sich.
»Diese Aussagen hätten Bonetti überführt«, sagte Contini. »Aber das hat sich jetzt ja von selber erledigt, würde ich sagen.«
»Der Aschenbecher ist auch dabei«, fügte Natalia hinzu.
Contini sah sie verständnislos an.
»Mit dem Aschenbecher hat er …«
»Ah. Verstehe.«
»Das braucht es doch alles nicht«, warf Bonetti ein. »Jetzt ist …«
Er beendete den Satz nicht. Mit gesenktem Blick fragte er noch einmal: »Wann wird die Polizei eintreffen?«
In stummem Einverständnis wandten sich Natalia und Giovanni ab und gingen zum Dorfrand davon. Auf dem Weg vom Tal herauf war niemand zu sehen. Natalia lehnte sich an dieselbe Mauer, von der aus sie den Richter hatte aufsteigen sehen, als in ihrem Geist noch eine große Wirrnis geherrscht hatte. Jetzt war alles wieder da, sie wusste, was geschehen war, und erkannte
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