Elia Contini 03 - Das Verschwinden
um Hilfe bitten sollte – sie wusste ja selbst nicht, was ihr geschehen war, wie es kam, dass sie jetzt hier im Halbdunkel der Kirche stand. Aber sie erinnerte sich an zwei Gebete, und sie sprach in Gedanken ein Vaterunser und ein Ave-Maria.
Rechts neben dem Altar war die Tür zur Sakristei. Auch hier war alles unversehrt; die hölzernen Schränke enthielten Altartücher und die Paramente des Priesters, es gab einen Tisch und zwei hölzerne Bänke, mottenzerfressene Teppiche und Vorhänge.
Natalia hatte ein Nachtquartier gefunden.
CORVESCO – Polizei sucht Tochter des Opfers
NATALIA ROCCHI: GEFLOHEN ODER ENTFÜHRT? Seit mehr als vierundzwanzig Stunden ist die 17-jährige Gymnasiastin Natalia Rocchi aus Lugano verschwunden. Laut telefonischer Auskunft des Staatsanwalts Arno Bazzi sei das Mädchen zuletzt in Corvesco nahe dem Feuer zum Nationalfeiertag gesehen worden. Besteht ein Zusammenhang zwischen dem rätselhaften Verschwinden und dem gewaltsamen Tod ihrer Mutter Sonia (siehe oben stehenden Artikel)? »Es liegen uns keine Hinweise vor, die für diese Hypothese sprechen«, erklärt Bazzi, »doch wir loten natürlich jede Möglichkeit aus.« Natalia hat das Haus ohne Vorankündigung, ohne ihr Mobiltelefon und ohne Kleider zum Wechseln verlassen. Wie aus polizeinahen Kreisen verlautet, ist noch unklar, ob das Mädchen in das Verbrechen verwickelt ist oder nicht. In Corvesco reden manche von Entführung, doch nach Auskunft der Polizei gibt es dafür keinerlei Anhaltspunkte.Vor einigen Wochen starb Natalias Vater, der bekannte Luganer Arzt Enzo Rocchi, mit 55 Jahren an einem Herzinfarkt. Nach Ansicht eines Kollegen von Rocchi könnte »Natalia aufgrund des Todes beider Elternteile innerhalb so kurzer Zeit unter Schock stehen«. Wie Kommissär Emilio De Marchi vermeldet, hat die Kantonspolizei alle Bekannten und Freunde Natalias kontaktiert. De Marchi bittet die Bevölkerung um Mithilfe: »Allfällige Hinweise auf ihren Verbleib werden unter der Nummer 0848 / 25 55 55 entgegengenommen.« Natalia ist 1,70 m groß, hat schulterlanges schwarzes, gelocktes Haar und blaue Augen, und zum Zeitpunkt ihres Verschwindens trug sie vermutlich hellblaue Jeans und ein weißes T-Shirt.
G. S.
Giovanni legte die Zeitung aus der Hand und sah seinen Vater an. Ernesto Canova war damit beschäftigt, die holzgetäfelte Fassade seines Hauses nachzulackieren. Giovanni war herausgekommen, um ihm zu helfen, doch als Erstes war sein Blick auf die neben der Lackdose liegende Zeitung gefallen.
»Und?«, fragte Ernesto. »Bist du zum Streichen oder zum Lesen her?«
»Tschuldigung«, antwortete Giovanni. »Ich hab nur was gesehen.«
Seine Geschwister Pietro und Viola, elf und sieben Jahre alt, spielten hinter dem Haus Federball, Giovanni hörte sie kreischen. Sie stritten sich, wer schuld sei, dass der Federball in einer Baumkrone gelandet war.
»Was ist? Was denkst du?«
»Nichts.«
Der Duft der Forellen, die seine Mutter zubereitete, drang durchs offene Küchenfenster. Sie machte sie nach einem alten Familienrezept: Mit ein paar Blättern Beifuß und Schafgarbe gefüllt, wurden sie in Mehl gewendet, gesalzen und bei niedriger Hitze in Butter gebraten.
»Gibst du mir mal den dickeren Pinsel? Ich möchte vor dem Essen fertig sein!«
Sein Vater klang leicht ungeduldig. Giovanni sah ihn von unten herauf an. Wie er in kurzen Hosen und Unterhemd auf der Leiter stand, auf dem Kopf einen Hut aus Zeitungspapier, kam er ihm vor wie ein echter Maler. Ernesto Canova war eigentlich ein Chamäleon: Er nahm stets das zu seiner jeweiligen Tätigkeit passende Erscheinungsbild an.
»Papa«, sagte Giovanni, »was sagst du denn zu dieser Mordgeschichte?«
»Ah, darüber haben wir doch schon geredet, oder?«
»Hast du sie gekannt, diese Rocchis?«
»Eigentlich nur vom Sehen. Sie waren nicht gerade kontaktfreudige Leute.«
»Und die verschwundene Tochter – Natalia?«
»Armes Mädchen«, sagte Ernesto und kam herunter, um die Leiter umzusetzen. »Eine Tragödie. Gib mir doch bitte mal den Lappen da.« Er kletterte wieder hinauf.
Giovanni reichte seinem Vater einen sauberen Lappen und nahm von ihm einen lackgetränkten Fetzen entgegen. Dann stellte er die Lackdose an den Fuß der Leiter, damit sein Vater den Pinsel eintauchen konnte. Es war der zweite Anstrich. Giovanni hatte die Wand Stunden früher zum ersten Mal gestrichen. Er hob den Kopf, um seine Arbeit zu begutachten.
Es war klar, dass ihm, wenn er jetzt nicht eine Entscheidung traf, die
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