Elia Contini 03 - Das Verschwinden
wie auch das Verstehen betreffen …«
»Natalia hat wohl beides«, unterbrach Contini.
»Bis zu einem gewissen Punkt. Sie versteht fast alles, nur nicht das, was mit ihrer Privatsphäre zu tun hat und insbesondere mit dem Tod ihrer Mutter.«
»Ihre Aphasie dürfte also psychische Ursachen haben.«
»Sagen wir so: Natalia leidet unter einer allgemeinen Sprachstörung. Ich meine, sie hat einen deutlichen Begriff von dem, was sie sagen will, aber es fehlt ihr das Wort dafür. Sie weiß, dass der Hund ein Haustier auf vier Pfoten ist, aber wenn sie das Tier benennen will, fällt ihr das Wort dafür nicht ein.«
»Entschuldigung«, sagte Canova, »ich sollte mich vielleicht nicht einmischen, aber …«
»Sagen Sie nur«, antwortete Mankell, »Sie sind schließlich der Gastgeber.«
»Ich möchte eines wissen: Kann es nicht sein, dass Natalia schreiben kann?«
»Das habe ich bereits versucht. Es fällt ihr schwer, aber anscheinend geht es eine Spur besser als das Sprechen.«
»Und wie ist die Prognose? Kann sie definitiv wieder gesund werden?«
»Ich habe mit der Logopädin gesprochen, die Natalia begleiten wird. Die Logopäden reden gar nicht von einer Behandlung der Aphasie, sondern von spezifischen Rehabilitationsmaßnahmen, die auf bestimmte funktionelle Schäden abgestimmt sind.«
Contini hob die Brauen.
»Genauer gesagt«, fuhr Mankell fort, »es gibt Aphasiepatienten, bei denen das Grammatikverständnis verloren gegangen ist – sie können zum Beispiel keine Verben konjugieren, keine Syntax bilden und so weiter; sie sagen Sätze wie: ›Gestern wir isst Apfel einen‹ oder ›ich Apfel essen gestern‹. Andere bilden zwar ganz flüssige und grammatikalisch korrekte Sätze, die aber sinnfrei sind. Wieder andere bilden lediglich einzelne Wörter unvollständig, sie sagen ›Sonnschim‹ statt ›Sonnenschirm‹. Und eine weitere Gruppe bildet Wörter, die nichts bedeuten – man will ›Lampe‹ sagen, und heraus kommt ›Kaladi‹.«
Contini lauerte auf eine Lücke im Redefluss des Arztes, der sein Wissen mit ausladenden Gesten, wiederholtem Abnehmen und Aufsetzen der Brille und sichtlicher Erwärmung für das Thema vortrug. Wenn Contini auch nur den Mund aufmachte, wurde die Unterbrechung augenblicklich im Keim erstickt: »Moment bitte, dazu komme ich gleich. Geduld. Für jeden dieser Fälle gibt es spezielle Therapien. Ferner gibt es Substitutionsaphasien. Dabei handelt es sich um Wortfindungsstörungen, die das mentale Lexikon betreffen, also das Wortwissen, und sich häufig in Metonymien oder Metaphern äußern.«
»Hören Sie, Doktor …«
»Moment. Eine metonymische Störung wäre zum Beispiel, wenn Sie ›Tisch‹ sagen wollen, aber ›Stuhl‹ herauskommt, oder wenn Sie ›Himmel‹ sagen wollen, und heraus kommt ›Wolke‹. Die Wortpaare stehen in einer so genannten Kontiguitätsbeziehung, das heißt, es besteht eine sachliche Zusammengehörigkeit zwischen den beiden Elementen. Der metaphorische Aphasiker hingegen sagt beispielsweise ›Mond‹ statt ›Lampe‹, ›Milch‹ statt ›Schnee‹ und ›Regen‹ statt ›Dusche‹, das heißt, er verwechselt ähnliche Begriffe. Natalia wiederum …«
»Genau«, warf Contini dazwischen, »reden wir von Natalia.«
»Natalia leidet unter einer Aphasie, die meiner Ansicht nach in erster Linie metonymisch ist. Sie besitzt, wie wir gesehen haben, eine inferentielle Kompetenz, und damit …«
»Was? Was?«
»Ah. Entschuldigung. Ich nenne Ihnen ein Beispiel. Wenn Natalia den Satz ›Die Katze sitzt auf dem Tisch‹ versteht, dann versteht sie auch den Satz ›Das Tier sitzt auf dem Tisch‹.«
»Ja und?«
»Auf diese Weise zieht sie selbständig die Schlussfolgerung ›Die Katze ist ein Tier‹. Nicht alle Aphasiker sind dazu in der Lage. Bei der Rekonstruktion des Vokabulars wird ihr diese Fähigkeit außerordentlich zugutekommen! Und gleichzeitig teilt sie uns mit, dass Natalia durchaus nicht alle Wörter vergessen hat. Sie hat lediglich Lücken, und das ist der Grund, weshalb sie sich ins Schweigen zurückzieht.«
»Verstehe.« Benommen von Mankells Verve stand Contini auf. »Ich sehe, dass Sie sich außerordentlich gut informiert haben.«
»Ja, ich bin Allgemeinarzt, aber die Neurologie war immer eine meiner Leidenschaften. So habe ich denn auch die Absicht, der Logopädin bei der rekonstruktiven Behandlung Natalias beizuspringen.«
»Wenn es etwas gibt, das wir tun können, lassen Sie es uns bitte wissen«, sagte Canova, ebenfalls
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