Elia Contini 03 - Das Verschwinden
allem müssen wir darauf bestehen, dass diese Informationen geheim bleiben!«
»Natürlich«, sagte Mankell. »Im Übrigen haben wir …«
Doch Bonetti ließ ihn nicht ausreden. Er hielt es für notwendig, allen laut und deutlich zu erklären, was auf dem Spiel stand.
»Ich darf daran erinnern, dass dort draußen ein Mörder frei herumläuft, einer, der glaubt, Natalia leide an Gedächtnisverlust. Was, glauben Sie, wird er anstellen, wenn ihm zu Ohren kommt, dass irgendwo Dokumente existieren, die ihn womöglich belasten? Na? Was wird er wohl tun?«
11
Das Gelb des Postautos
Der Himmel über Corvesco war dunkelgrau und verhieß nichts Gutes, Natalia aber verzichtete dennoch nicht auf ihren Spaziergang. Giovanni war beim Angeln, und sie hatte das Haus verlassen, ohne jemandem Bescheid zu sagen. Seitdem ihr das Sprechen solche Mühe machte, schätzte sie Momente der Einsamkeit: Wenn sie mit sich allein war, gelang es ihr oft, einen Gedanken zu Ende zu denken und die richtigen Worte dafür zu finden.
Aber es kam vor, dass die Verzweiflung sie überwältigte. Es wird nie wieder gut, dachte sie, ich muss für immer allein bleiben, niemand erträgt meine Behinderung. Diese minutenlange Leere, wenn ich um Wörter ringe, diese Sätze ohne Sinn. Kontakte mit Gleichaltrigen mied sie – ihre Freundinnen waren nur verlegen und wussten nicht, was sie sagen sollten. Die Polizei und der Jugendrichter waren hinter ihr her und wollten Auskünfte von ihr; sie stand im Zentrum einer polizeilichen Ermittlung: Innerhalb von Tagen war ihr bisheriges Leben in Scherben zersprungen.
Wo sollte sie hin, was fing sie an, wenn der Sommer vorbei war?
Natalia ging die Straße entlang, Antworten auf ihre Fragen fand sie nicht. Bis zum nächsten Dorf waren es fünf oder sechs Kilometer, und Natalia machte normalerweise lang vorher kehrt, doch an diesem Tag war sie derart vertieft in ihre Gedanken, dass sie erst bei den ersten Regentropfen merkte, wie weit sie schon gekommen war.
Sie hob den Kopf und betrachtete den Himmel. Es war wohl besser, umzukehren, aber die Tropfen fielen dicker und dichter, und sie stellte sich unter dem Vordach einer Kapelle am Straßenrand unter. Sie hatte doch gewusst, dass es regnen würde, Giovanni hatte sie doch gewarnt.
Giovanni. Wieder ertappte sie sich, wie sie an ihn dachte.
Dieser Junge drängte sich auf leisen Füßen in ihr Leben, aber war das richtig? Natalia klammerte sich an den einzigen Menschen, der mit ihrem Schweigen zurechtzukommen schien. Wenn ich wieder gesund werde, dachte sie und schämte sich ihres Gedankens, angenommen, ich werde wieder gesund – was werden wir einander zu sagen haben, Giovanni und ich?
So viele Fragen. Ich gehe lieber zurück, sagte sie sich, doch kaum war sie aus ihrem Unterstand herausgetreten, öffneten sich die Schleusen des Himmels, und der Regen klatschte herab, vom Asphalt spritzten die Tropfen, und bald war alles hinter einem grauen Vorhang verschwunden – Plakate, Häuser, Bäume, die Straßenränder.
»Ich habe doch niemanden misshandelt«, sagte Luciano Savi laut, um in der Freisprechanlage des Autos gehört zu werden.
»Du hast niemanden misshandelt?«, schnaubte Mankell. »Spinnst du? Du hast was viel Schlimmeres getan, du hast …«
Er verstummte. In der Schweiz mag die Gefahr, abgehört zu werden, gering sein, aber auch dort spricht man den Satz »Du hast einen Menschen umgebracht« nicht in ein Mobiltelefon.
Savi verstand auch so. Er ließ einige Sekunden verstreichen, und als er wieder sprach, war sein Tonfall gedämpft. »Du hast ja Recht. Aber jetzt ist es schon so, wie es ist, was soll ich machen?«
»Nichts«, sagte Mankell. »Nichts. Mach gar nichts, halte dich bedeckt, warte ab.«
»Tja, leider belasten diese Papiere auch dich. Mitgefangen, mitgehangen. Was wird sich Rocchi wohl gedacht haben, hä? Jetzt so was, schaut euch meinen Kompagnon an, fälscht der doch glatt ärztliche Gutachten für Huren …«
»Sei still! Nicht am Telefon, was fällt dir ein!«
»Mir fällt ein, dass ich anscheinend als Einziger büßen soll! Die Polizei war wieder bei mir, sie wollen meine gesamte Buchhaltung zerpflücken, und irgendwas Ungesetzliches wird am Schluss schon rauskommen. Aber ich mach da nicht mit, ich bin keiner, der Frauen verprügelt, und ich lasse mich auch nicht einlochen, ohne …«
»Schon gut.« Mankells Ton war müde. »Wir machen es so, wie du willst. Wie wär’s, wenn du jetzt nach Hause zurückfährst?«
»Ich will das Mädchen
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