Elia Contini 03 - Das Verschwinden
sehen. Und zwar bevor sie nach Lugano zurückkehrt. Habe ich eine andere Wahl? Du hast selbst gesagt, dass sie jeden Tag …«
»Das ist nicht wahr!«
»… einen Spaziergang in der Umgebung macht, wieso soll das nicht wahr sein?«
»Das hab ich nur so gesagt, und überhaupt – was ist, wenn Contini dich dort erwischt? Und was willst du Natalia sagen?«
Savi gab keine Antwort.
»Was willst du von ihr?« Mankells Ton wurde zunehmend nervös. »Du wirst doch wohl nicht … hey! Savi! Hörst du mich? Savi, bist du noch da?«
Die Verbindung war abgerissen.
Der Wolkenbruch war so gewaltig, dass sich Natalia wie unter Wasser fühlte. Binnen Sekunden hatte das Wasser ihre Schuhe, Strümpfe, Kleidung durchtränkt und drang ihr sogar in die Augen und Ohren ein. Sie hatte keine Ahnung, wie weit es noch bis Corvesco war, der Regen stand vor ihr wie eine Wand, und sie konnte kaum ein paar Meter weit sehen. Sie ging immer am Straßenrand entlang, unter den ausladenden Ästen der Bäume, von denen sie sich einen gewissen Schutz versprach.
Wieder war sie allein. Wieder erlebte sie im Geist die Tage, als sie auf der Flucht durch den Wald geirrt war. Inzwischen wusste sie, dass sie einen Schock erlebt hatte, ein, wie Dr. Mankell sagte, psychisches Trauma. Sie war auf dem Weg der Besserung, aber wenn sie zurückdachte, kehrte sofort die Panik zurück, und ihr Gehirn wurde leer – alle Wörter verschwanden daraus und mit ihnen die Erinnerung.
Ab und zu hörte sie auf der Straße ein Auto. Das Motorengeräusch wurde lauter und verklang wieder, als käme jemand die kurvige Straße nach Corvesco herauf. Vielleicht konnte sie fragen, ob sie mitfahren durfte. Bei der Vorstellung, dass sie am Straßenrand stand und trampte wie eine Touristin, musste sie lächeln …
Aber wo blieb denn dieses Auto, wieso tauchte es nicht endlich auf? Es war, als sei es immer hinter ihr, ohne sie je zu erreichen.
Das Prasseln des Regens löschte das normale Verrinnen der Zeit aus. Natalia hatte das Gefühl, dass sie seit Stunden im Unwetter unterwegs war. Sie hatte wieder vergessen, wie das richtige Wort lautete, und musste sich konzentrieren, bis es ihr einfiel: Gewitter. Aber vielleicht war es gar kein Gewitter. Der Regen fiel überall, ohne Unterlass, ohne Atempause.
Irgendwann hörte sie einen Dreiklang und erkannte die Hupe des Postautos und die drei Töne, a – cis – e . Aus der Tell- Ouvertüre von Rossini – das Hornsignal der Postautos ist so alt wie die unzerstörbare Schweizer Post selbst.
Natalia drehte sich um und sah im Grau des Regens verschwommen das Gelb des Postautos aufleuchten. Es kam die Serpentinenstraße herauf, es war noch ein paar Hundert Meter unter ihr. Natalia schöpfte Hoffnung. Sie würde es anhalten und fragen, ob sie mitfahren durfte. Sonst ertrank sie noch, bevor sie in Corvesco ankam.
Mankell war besorgt. Er hatte beschlossen, noch einmal mit Savi zu reden und ihm ein für alle Mal klarzumachen, dass er stillhalten und abwarten müsse. Sonst würde er auspacken. Sich der Polizei stellen, den Ermittlern sagen, was er wusste, ihnen klarmachen, dass er mit den schwerwiegenden Vergehen nichts zu schaffen hatte, und als Lohn für seine Kooperation auf Nachsicht hoffen.
Aber Savi war nicht zu erreichen.
In der Wohnung über dem Tukan machte niemand auf. Als er Savi nach endlosen Versuchen schließlich am Mobiltelefon erreichte, saß der im Auto, war unterwegs nach Corvesco und ließ sich von seinem Vorhaben nicht abbringen. Und wie ein lästiges Kind war Mankell kurzerhand abgewürgt worden – Savi hatte einfach das Gespräch beendet.
Mankell überlegte ernsthaft, zur Polizei zu gehen. Das hieß natürlich, ein Geständnis abzulegen – die Chance, doch noch mit einem blauen Auge davonzukommen, wäre damit vertan; andererseits hätte er sich endlich von einem Albtraum befreit. Wenn Natalia in Gefahr war, musste er außerdem Contini verständigen, der in Corvesco wohnte und wahrscheinlich rechtzeitig eingreifen konnte. Aber …
Aber Mankell war unschlüssig.
Es gab doch noch eine Möglichkeit, alles zu vertuschen, oder? Wenn es ihm gelang, Savi zur Vernunft zu bringen, wenn er ihn überreden konnte, sich im Tukan einzuriegeln und nicht mehr von der Stelle zu rühren, dann bestand noch eine Chance. Die Polizei hatte keine Beweise, das einzig Schriftliche, das existierte, hatte Enzo Rocchi an sich gebracht, und wer weiß, wohin es geraten war.
Nein, fand Mankell, noch war nicht alles zu spät.
Solange
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