Elia Contini 03 - Das Verschwinden
das verwüstete Gesicht des Dr. Mankell die Blicke magisch an. Und wieder war es Ferrari, der als Erster das Wort ergriff: »Vorläufig haben wir nicht mal Hinweise auf die Identität des Täters.«
»Nicht die leiseste Spur … DNA, Abdrücke? Nichts?«
»Nichts Verwertbares«, antwortete der Kriminaltechniker. »Weder beim ersten noch beim zweiten Verbrechen. Und technisch gesehen, lässt nichts darauf schließen, dass es sich bei dem Täter um dieselbe Person handelt.«
Alle gingen in Gedanken die Ereignisse der letzten Wochen durch. Jemand überfällt Sonia Rocchi in Corvesco; dann verschwindet die Tochter im Wald, und als sie wieder auftaucht, steht sie unter Schock und redet Unverständliches über einen bekannten Nachtclub; dann erfährt man, dass der Arzt, der die Tochter behandelt und ein Kollege ihres verstorbenen Vaters ist, auch diverse Mädchen aus selbigem Nachtclub in Behandlung hatte; und schließlich bringt jemand diesen Arzt um.
Staatsanwalt Bazzi ordnete die Fotos auf dem Schreibtisch neu.
Tettamanti presste kopfschüttelnd die Lippen zusammen.
Ferrari hüstelte.
De Marchi fasste zusammen, was alle dachten: »Ein schönes Schlamassel.«
Vorläufig war dem nichts weiter hinzuzufügen. Doch Staatsanwalt Bazzi, der ein tüchtiger Mann war, bemühte sich, der Zusammenkunft einen Sinn zu geben, indem er zum Abschluss zwei Ziele formulierte: Erstens ist darauf zu achten, dass die Presse so weit wie möglich herausgehalten wird, und zweitens muss man Luciano Savi auf den Zahn fühlen, um vielleicht den Ansatz eines Motivs zu erkennen. Woraufhin die vier Herren sich verabschiedeten und auseinandergingen. De Marchi konnte sich einen letzten Blick auf die ausgebreiteten Fotos nicht verkneifen. Und im Flur, als er allein war, murmelte er noch einmal vor sich hin: »Ein schönes Schlamassel …«
Das Tessin nimmt sich, wie jeder kleine Staat, sehr ernst. Es hat eine eigene Regierung, ein Parlament, allerlei Institutionen und ein Heer von Journalisten, die staatliche und private Fernsehsender, das Radio, die Printmedien, das Internet bedienen … Jedes Medium ist geeignet, um zu erzählen, was zwischen Chiasso und Airolo passiert. In einem Land, in dem ein Krach im Verein der Fasnachtsfreunde eine Nachricht wert ist, schafft es ein Doppelmord natürlich auf die Titelseiten, und dort bleibt er dann auch eine ganze Weile. Vor allem, wenn das Gerücht geht, dass eine Ordonnanzwaffe vom selben Typ wie die der Armeeoffiziere für den Mord an einem bekannten Luganer Arzt benutzt wurde.
In der Redaktion war Contini eine Sorte Faktotum. Im Sommer, wenn es an verfügbaren Redakteuren fehlte, wurde er schon einmal zu einer Pressekonferenz oder Veranstaltung geschickt, die nicht besonders wichtig war. So kam es, dass ihm an diesem Tag die Ehre zuteilwurde, sich die endlose Rede der Präsidentin der TEN (Ticino Energia Nuova) anhören zu dürfen.
Während seine Kollegen damit beschäftigt waren, die Zeitung zu machen: Außer dem Doppelmord gab es noch etliche weitere heiße Eisen – das Filmfestival von Locarno war eben zu Ende gegangen und füllte das Feuilleton; ferner war in den oberen Etagen des Tessiner Energieversorgers ein Streit ausgebrochen, und die Zunahme des Autobahnverkehrs hatte die Feinstaubbelastung der Luft erhöht. Und schließlich hatte ein Mitglied des Staatsrates unbedachte Äußerungen zulasten eines Kollegen und damit indirekt auch zulasten der goldenen helvetischen Kollegialität getan.
Contini aber lauschte der TEN-Präsidentin. »Wir meinen«, sprach sie, »dass um des spirituellen Wohlbefindens willen der Begriff Wohnen und Architektur neu gedacht werden muss.«
Die Veranstalter boten eine Reihe von Kursen an, in denen man lernte, die eigene Wohnumgebung so zu gestalten, dass sie positive Energie ausstrahlte.
»Damit meine ich nicht einfach Feng Shui, sondern eine echte Kultur des Wohnens, die der Erde und den Sternen ebenso Rechnung trägt wie dem Denken und den praktischen Erfordernissen des Lebens.«
Für die Veranstaltung war ein Saal im ersten Stock eines Hotels in der Nähe des Bahnhofs von Bellinzona gemietet worden. Auf dem runden Tagungstisch lagen fünfzehn Pressemappen aus, zahlreiche Mineralwasserfläschchen waren aufgestellt, und für die Powerpoint-Präsentation gab es einen Laptop nebst Beamer. Auf der einen Seite des Tisches saßen die drei Abgesandten der Tageszeitungen, darunter Contini, und auf der anderen Seite die in Verstärkung weiterer fünf
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