Elina Wiik - 02 - Sing wie ein Vogel
setzte sich eine Brille auf und las schweigend.
»Interessant«, sagte sie dann. »Aber nicht verwunderlich. Wo haben Sie den gefunden?«
»Im Archiv des sozialdemokratischen Polizeidistrikts hier in Västerås. Ich habe nach Spuren einer Reise gesucht, die Wiljam Åkesson nach Vietnam unternommen hat.«
»Und ich werde auch erwähnt. Und dann wurde ich Åkessons Nachbarin. Was für ein Zufall. Möchte wissen, ob er wusste, dass ich es war. Dass es sich um ein und dieselbe Person handelte.«
»Was meinen Sie?«
»Vermutlich. Er hat mich vermutlich wieder erkannt. Er scheint ja alles unter Kontrolle gehabt zu haben, nicht wahr? Aber der Bericht ist nicht unterzeichnet.«
»Wir glauben, dass Åkesson ihn geschrieben hat. Ich möchte wissen, warum. In wessen Auftrag und weshalb es so wichtig war. Ich möchte, dass Sie mir von dieser Zeit erzählen.«
»Der Wunsch nach Überwachung war der Grund. Die Sozialdemokraten wollten die Politik unter Kontrolle haben, alles, was die Arbeiterbewegung tangierte: die Vereine in den Bürgerhäusern, die Mietervereine, Konsumvereine, Gewerkschaftsorganisationen und was weiß ich. Besonders die Gewerkschaft. Man durfte ruhig abweichende Meinungen haben, aber gehörte man einer Organisation an, die die Sozis nicht unter Kontrolle hatten, dann wurde überall gebremst. Wo immer sie konnten, verhinderten sie, dass man einen Vertrauensposten bekam. Wenn man nicht Sozi war, durfte man nicht mal einen Abendkurs leiten.«
Sie zeigte auf das Blatt Papier.
»Gehörte man der kommunistischen Partei an wie ich oder irgendeiner anderen linken Organisation, dann war man für die ein Paria. Ein Ausgestoßener. Sie hielten uns unter Kontrolle. Niemand sollte sich unbemerkt einschleichen können.«
»Ist ihnen das gelungen?«
»Meistens, ja. Die Sozis hatten das Talent, Leute zusammenzutrommeln, wenn etwas auf dem Spiel stand. Und ich muss ehrlich zugeben, dass es uns oft schwer fiel, das Vertrauen der Menschen zu gewinnen. Viele, vor allem auch Gewerkschaftsmitglieder, fanden uns sicher gut und engagiert, aber den Kommunismus wollten sie nicht. Wir schafften es nicht, unsere Überzeugungen rüberzubringen.«
»Sie wollten die Diktatur des Proletariats, oder?«
Agnes Khaled zündete sich eine weitere Zigarette an.
»Ja und nein. Ja, weil es im Parteiprogramm stand. Das war das Ziel der sozialistischen Revolution. Aber ich behaupte, dass wir überzeugte Demokraten waren, Steinewerfer wie die in Göteborg waren wir nicht und auch keine Terroristen. Die wären bei uns auf der Stelle ausgeschlossen worden. Zu bewaffnetem Widerstand wollte man erst übergehen, wenn die Mehrheit des Volkes daran gehindert würde, den Kapitalismus abzuschaffen.«
Sie lächelte Elina an.
»Aber aus dieser Art Sozialismus ist nun nichts geworden. Die Frage stellte sich also gar nicht.«
»Entschuldigen Sie meine Unwissenheit, aber was hat die FNL-Gruppe mit all dem zu tun?«
»Viele von ihnen waren ja Kommunisten. Jetzt im Nachhinein kann man sich wirklich fragen, warum.«
»Ja, warum?«
»Das hatte mit 1968 zu tun, mit der studentischen Linken. Die Leute wurden radikalisiert. Aber eigentlich ging es um eine größere Frage. Die Studenten glaubten, sie führten eine weltumfassende Bewegung an, wurden aber eigentlich nur in einem historischen Geschehen mitgerissen. Haben Sie etwas gegen einen kleinen Vortrag?«
»Nein, reden Sie. Es interessiert mich. Darum bin ich ja hier.«
»Es handelte sich um den Übergang in eine neue historische Epoche. Fast fünfhundert Jahre kolonialer Herrschaft wurden innerhalb weniger Jahrzehnte zerstört. Zwischen 1946 und 1975, wenn man genau sein will. Die gesamte Dritte Welt befreite sich von der direkten Herrschaft der westlichen Länder. Fast jedenfalls. Übrig blieben nur kleine koloniale Reste wie Hong Kong zum Beispiel. Unter den wirklich wichtigen fehlten noch Südafrika und Palästina. Damals. Inzwischen ist Südafrika ja auch frei.«
Agnes Khaled sah Elina an.
»Das ist Ihnen alles neu, oder?«
»Ich habe eine ganz gute Allgemeinbildung«, sagte Elina. »Aber über Weltpolitik habe ich nicht viel nachgedacht.«
»Wie Sie vielleicht wissen, bin ich mit einem Palästinenser verheiratet. Ich bin ihm da unten in meiner politisch bewegten Jugend begegnet. Das Engagement steckt also sozusagen in meinem Ringfinger. Aber egal, damals ging es ja um die Frage, wodurch das koloniale System ersetzt werden sollte. Imperialismus, wenn die USA das Sagen bekämen.
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