Elina Wiik - 03 - Der tote Winkel
gelöst hatte. Damals war Olavi Andersson zwei Tage vor der Reichstagswahl im September 2002 festgenommen worden und hatte ohne Umschweife einen dreifachen Mord gestanden. Aber es war gerade nicht der Zeitpunkt, über die Vergehen anderer nachzudenken. Gerade interessierte sie sich vielmehr für ihre eigenen.
In ihrem Büro griff sie zum Telefon. »Ich bin’s.« Dann blieb sie lange stehen und schwieg. »Danke, Susanne. Wirklich.«
Das Oberlandesgericht hatte sie freigesprochen. Dass sie vergangenen Herbst Kurt Jörgen Hansson den rechten Mittelfinger in einem Restaurant auf der Insel Djurgården in Stockholm gebrochen hatte, den er ihr als Stinkefinger nur wenige Zentimeter vors Gesicht gehalten hatte, war nicht als Körperverletzung gewertet worden. Zu diesem Urteil war das Amtsgericht Västerås in einer früheren Instanz gekommen. Ihre Anwältin und beste Freundin Susanne Norman hatte das Oberlandesgericht davon überzeugt, dass die Handlung von Kurt Jörgen Hansson als Gewaltandrohung zu verstehen gewesen sei. Elina Wiiks Reaktion, den Finger zu packen und resolut zur Seite zu drücken, sei deshalb bloße Selbstverteidigung gewesen. Sie habe nicht die Absicht gehabt, Kurt Jörgen Hansson zu verletzen, seine Verletzung sei nur eine unglückliche Folge ihrer Notwehr gewesen.
Im Prozess vor dem Oberlandesgericht hatte Elina ausweichend auf die Fragen des Staatsanwaltes geantwortet, für wie ernst sie die Bedrohung gehalten habe. Dass ihr Motiv Wut und nicht Angst gewesen war, hatte sie mit keinem Wort erwähnt. Auch nicht, dass sie lange hochzufrieden darüber gewesen war, dass sie dem Mann den Finger gebrochen hatte. Sie hatte vor dem Oberlandesgericht zwar nicht gelogen, aber auch nicht die Wahrheit gesagt.
Als Susanne vorgeschlagen hatte, auszugehen und den Freispruch zu feiern, hatte Elina dankend abgelehnt. Der Sieges-Champagner hätte bitter geschmeckt.
Sie warf einen raschen Blick auf den Korb mit den Ermittlungsakten, die auf sie warteten, und ging dann auf den Flur hinaus. Auf der anderen Seite, ein paar Türen weiter, lag das Büro von Oskar Kärnlund. Sie klopfte und wartete auf sein »Herein«.
»Wiik«, sagte er. »Nimm Platz. Ich muss nur rasch was fertig machen.« Sie wartete schweigend, während er etwas auf Papier notierte. Dann sah er hoch. »Ja?«
»Das Oberlandesgericht hat mich freigesprochen«, sagte sie mit neutraler Stimme. »Sie haben das mit der Notwehr akzeptiert.«
Kärnlund klatschte in die Hände. »Ausgezeichnet. Ich wusste doch, dass meine Beamten keine Leute misshandeln.«
Elina starrte auf die Tischplatte. »Ich hatte eine gute Anwältin.«
»Hauptsache, du hast jetzt wieder eine weiße Weste.«
Sie wurde zwar freigesprochen, aber über die Verurteilung im Amtsgerichtsprozess hatten die lokalen Medien dennoch berichtet. Ganz sauber war ihre Weste also nicht, was Elinas schlechtes Gewissen etwas erleichterte.
»Ich habe auch etwas zu erzählen«, sagte er und runzelte die Stirn. »Eine Sache, über die du dich nicht sonderlich freuen wirst, glaube ich. Wie du weißt, gehe ich zum Jahreswechsel in Rente, ich höre noch vor Weihnachten auf.«
»Ich weiß«, erwiderte sie. »Bedauerlich, finde ich. Für mich, meine ich. Aber sicher schön für dich.«
»Was ich sagen wollte, ist Folgendes: Wahrscheinlich werde ich einen Nachfolger bekommen, der nicht unbedingt zu deinen Favoriten gehört.«
Elina war klar, wen er meinte. Egon Jönsson würde der neue Chef des Kriminaldezernates in Västerås werden. Jönsson wusste Polizistinnen ungefähr genauso zu schätzen wie eine Sommergrippe. Jönsson hielt sie vermutlich für eine besonders schlimme Infektion, seit sie ihm einmal vor zwei Jahren bei einem Brandstiftungsfall in Surahammar auf die Finger gehauen hatte. Jönsson hatte nicht den Schneid, für seine Fehler einzustehen. Er besaß auch nicht die Fähigkeit, mutmaßliche Kränkungen zu verzeihen.
»Jönsson!«, sagte sie und machte eine Miene, als hätte sie in eine Zitrone gebissen. »Was für eine ausgezeichnete Wahl eines Chefs. Damit steht meiner eigenen Karriere ja nichts mehr im Wege. Als Nächstes werde ich wahrscheinlich in den Fahrradkeller abkommandiert.«
»Er hat auch gute Seiten«, meinte Kärnlund. »Deswegen hat er den Job bekommen. Er arbeitet ungewöhnlich strukturiert, und ein Chef muss sich schließlich auch um die ganze Verwaltung kümmern. Außerdem hat er zwanzig Jahre lang Erfahrungen hier am Dezernat gesammelt. Da kommt sonst keiner
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