Elina Wiik - 03 - Der tote Winkel
den Zettel und betrachtete ihn erneut, als könnte sie irgendwie verstehen, was darauf stand. »Können wir das übersetzen lassen?«, fragte sie.
Valdis Bek wandte sich an Inspektor Lacis. »Kennen wir jemanden, der Arabisch kann, Lacis?«
Lacis dachte über die Frage nach. »Nein, Herr Kommissar. Mir fällt niemand ein.«
Kommissar Kalmanis griff zu seinem Mobiltelefon. »Ich rufe im Lager in Olaine an«, sagte er, »dort haben sie vielleicht jemanden.«
Unterhaltung auf Lettisch. Elina verstand kein einziges Wort. Kalmanis schaltete das Telefon mit derselben Bewegung aus, mit der er seine Zigaretten ausdrückte. »Sie haben einen Araber. Sie wollen ihn noch fragen, ob er lesen kann. Dann faxen wir ihnen eine Kopie.«
In diesem Augenblick ging die Wohnungstür auf. Jemand kickte in der Diele seine Schuhe in eine Ecke. In der Tür des Wohnzimmers erschien ein etwa Zehnjähriger. Erstaunt betrachtete er die Versammlung Fremder auf dem Sofa. Schließlich fiel sein Blick auf Valdis Bek.
»Sveiks, Janis«, sagte Bek. Der Junge nickte ganz leicht. Seine Mutter kam ins Zimmer. »Diese Herren und die Dame wollen dir ein paar Fragen stellen«, sagte sie. »Aber hab keine Angst, es ist nicht gefährlich.«
»Dieses Buch«, sagte Valdis Bek und hielt das grüne Buch mit den goldenen Buchstaben in die Höhe, »erinnerst du dich, auf welchem Boot du es gefunden hast?«
Janis sah seine Mutter an. Sie nickte, als wolle sie ihn ermahnen zu antworten.
»Ja«, sagte er knapp.
»Kannst du uns hinführen?«
Janis nickte.
»Zieh dir Schuhe an, dann fahren wir.«
Elina war nun Teil einer Delegation, die um zwei Personen gewachsen war, Janis und seine Mutter.
Noch ist für eine weitere Person Platz in den Autos, dachte sie. Aber dann wird es eng.
Die beiden Fahrzeuge mit den sieben Delegationsteilnehmern bogen zum Hafen ab. Ein Wachmann in einem Schuppen löste ein Seil, mit dem das Gelände symbolisch abgesperrt war. Die Reifen rollten leise darüber.
»Dorthin«, sagte Janis und deutete nach links. Sie fuhren bis ans Ende der Teerstraße, dann stellten sie die Autos ab.
Kommissar Kalmanis’ Handy klingelte. Er hörte zu und stellte es dann ab.
»Der Araber in Olaine kann lesen«, sagte er.
Janis sah Valdis Bek an, und dieser machte eine auffordernde Handbewegung. Janis führte die Delegation an, ein winziger General vor einer ausgewachsenen Truppe. »Dort«, sagte er und deutete vor sich. Fünfzig Meter vor ihnen stand ein schrottreifes Fischerboot an Land aufgedockt.
Elina trat langsam näher. Der Name am Bug war noch zu entziffern. Mistral. Sie wusste, dass sie das nicht aufzuschreiben brauchte, sie würde sich daran erinnern. Mistral. Der Wind.
Sie kletterten nacheinander an Bord. Nur Janis’ Mutter blieb unten stehen. Über ihren Köpfen kreisten kreischende Möwen. Der Hafen stank nach Tang und Altöl. Janis deutete auf die Luke zum Vorratsraum. Bek und Lacis öffneten sie und kletterten nach unten. Elina und Janis folgten ihnen. »Dort drinnen«, sagte sie und deutete auf ein Loch im Schott. Elina steckte den Kopf hindurch und suchte nach Spuren von Menschen. »Hier ist nichts mehr«, sagte sie nach einer Weile und zog den Kopf zurück.
Sie wühlten im Müll und betrachteten die Wände. Vielleicht hatte jemand eine Nachricht in das Schott geritzt? Schweigend untersuchten sie alle Gegenstände, die auf dem Boden des Vorratsraumes herumlagen. Dann kletterten sie wieder an Deck und machten dort weiter. Niemand fand etwas von Wert.
Elina hielt sich an der Reling fest, um beim Herabklettern auf der Leiter nicht das Gleichgewicht zu verlieren, da hörte sie die Stimme von Valdis Bek.
»Inspektorin Wiik? Seien Sie doch so freundlich und schauen Sie mal hierher.«
Er stand vor der Steuerkabine und deutete auf einen Punkt etwa einen Meter über dem Deck. Elina trat darauf zu und betrachtete ihn. Die Steuerkabine war aus dicken Eisenplatten. In einer Platte war ein runder Abdruck.
»Sieht aus wie ein Einschuss, nicht wahr?«, meinte Bek. »Die Kugel hat die Eisenplatte allerdings nicht durchschlagen.«
Elina nickte. »Irgendwas scheint hier auf dem Boot passiert zu sein«, erwiderte sie. »Wir können natürlich nicht wissen, wann.«
Von Neuem suchten sie jetzt das ganze Boot ab. Eine Stunde später gaben sie auf und kletterten wieder nach unten.
Janis sah seine Mutter und die anderen besorgt an.
»Wir haben sonst nichts mitgenommen, ehrlich«, sagte Janis zu Valdis Bek. »Schon gut«, erwiderte dieser und
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