Elina Wiik - 03 - Der tote Winkel
namens Sayed Al-Sharif. Soweit ich weiß, ist er mit dem Schiff von Ventspils nach Schweden gereist oder hat es zumindest versucht.«
Elina war dankbar, dass sein Englisch noch unbeholfener war als ihres.
»Das geht aus Ihrer schriftlichen Anfrage hervor«, erwiderte Kommissar Kalmanis. »Wir haben bereits ein paar Nachforschungen angestellt, obwohl die Zeit knapp war. Der Mann taucht in unseren Unterlagen nicht auf. Er kann also nicht unter seinem eigenen Namen legal nach Lettland eingereist sein. Das schließt jedoch nicht aus, dass er sich zu dem genannten Zeitpunkt in Lettland aufgehalten hat.«
Er schaute auf ein Blatt Papier.
»Es handelt sich um den Winter 2001, nicht wahr? Mittlerweile haben wir unsere Grenzbewachung modernisiert und verschärft, und zwar wegen des bevorstehenden EU-Beitritts. Wir werden nicht mehr zulassen, dass Lettland von illegalen Flüchtlingen als Sprungbrett nach Europa benutzt wird. Wer unsere Barrieren dennoch überwindet, kommt entweder hier ins Gefängnis oder wird wieder nach Hause geschickt.«
Elina war wieder einmal dankbar, dass sie nicht zu den Leuten gehörte, die ein Sprungbrett benötigten, um sich ein erträgliches Leben zu verschaffen.
»Ich bin nicht davon ausgegangen, dass er legal hier war«, meinte Elina. »Meine größte Hoffnung ist, die Namen der Schleuser in Erfahrung zu bringen, die Verbindungen nach Schweden haben. Am liebsten würde ich natürlich jemanden finden, der weiß, was Sayed Al-Sharif zugestoßen ist.«
»Letzteres könnte schwierig werden«, meinte Kalmanis. »Kein Schleuser wird freiwillig etwas über diesen Fall preisgeben. Damit würde er schließlich eine Straftat zugeben, noch dazu eine, die zu internationalen Komplikationen führt, immerhin sind unsere Kollegen aus Schweden an der Sache interessiert. Wir wollen jedoch einen Versuch unternehmen.«
»Dafür bin ich sehr dankbar«, sagte Elina und fühlte sich plötzlich wie eine Verkünderin der Tugend der Dankbarkeit.
»Draußen wartet bereits ein Wagen. Mit dem fahren wir nach Ventspils. Dort erwartet uns der örtliche Kommandant der Immigrationspolizei zum Mittagessen.«
Elina wünschte sich, sie hätte noch eine Flasche Whisky gekauft, aber sie hatte die Hoffnung, dass sie sich in der Provinz vielleicht mit einem Stoffabzeichen begnügten, obwohl sie zum Essen einluden. Sie hoffte auch, dass sich ihre gesellschaftlichen Verpflichtungen in Lettland auf dieses eine Mittagessen beschränken würden.
Der Fahrer stellte sich als Raimonds vor. Ein junger Mann, der strahlte, als er Elina erblickte. Kommissar Kalmanis hielt ihr die Beifahrertür auf und nahm selbst auf dem Rücksitz Platz. Fahrer Raimonds fuhr rasch und ließ sich von roten Ampeln nicht aufhalten; die Polizeisirene hielt den übrigen Verkehr auf.
Sie fuhren durch flaches Land und an abgeernteten Äckern, dichten Wäldern und Telefonmasten mit leeren Storchennestern vorbei. Sowohl der Kommissar als auch der Fahrer rauchten im Auto. Nach etwa einer Stunde hielten sie vor einem Haus an.
»Eine Tasse Kaffee gefällig?«, fragte Raimonds auf Lettisch, und Kalmanis übersetzte.
Das Café war mit drei runden Tischen und stapelbaren Plastikstühlen möbliert. In dem Regal hinter der Bar standen Schnapsflaschen mit lettischen Etiketten. In einem Kühlschrank gab es Erfrischungsgetränke, hauptsächlich Coca-Cola. Eine junge Frau servierte ihnen Kaffee. Kalmanis und Raimonds rauchten. Elina suchte nach einem Gesprächsthema.
»Haben Sie hier in Lettland viele illegale Flüchtlinge?«, fragte sie.
»Nein, vermutlich fast keinen Einzigen«, antwortete Kalmanis. »Niemand beantragt hier Asyl. Alle wollen weiter. Nach Deutschland oder nach Schweden. Aber wir erleben hier viele Tragödien. Auf dem Weg hierher sind wir an Olaine vorbeigefahren. Wir bezeichnen das zwar als Flüchtlingslager, in Wirklichkeit handelt es sich um ein Gefängnis. Dort sitzen Menschen aus allen möglichen Ländern. Es ist ihnen geglückt, hierher zu kommen, aber nicht weiter. Sie hoffen, dass sich irgendein Land ihrer erbarmt, was nicht geschehen wird. Sie sitzen dort also jahraus, jahrein.«
Er inhalierte tief und drückte seine Zigarette dann aus.
»Dieser Mann«, meinte er dann, »Sayed, warum ist er so wichtig?«
»Er ist der verlorene Sohn«, erwiderte Elina.
Sie erhoben sich und fuhren weiter. Nach etwa einer Stunde wurden Verkehr und Bebauung dichter. »Ventspils«, sagte Kalmanis. Sie fuhren über eine Brücke. Unter ihnen war ein Fluss, der in
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