Elixir
gegeneinanderstießen.
» Sei vorsichtig«, sagte ich.
» Sorry, ich hab’s gleich.«
Er räumte noch ein paar weitere Apparate aus dem Weg, dann stellte er sich auf die Zehenspitzen und beugte sich vor, um auf eine Stelle an der Rückwand zu drücken. Was tat er da?
» Da«, sagte er.
» Was? Wovon sprichst du?«
Er antwortete nicht, sondern packte einen Tritthocker und trug ihn zur anderen Seite des Zimmers, wo die Wand über und über mit gerahmten Fotos bedeckt war. Viele der Bilder hatte Dad selbst aufgenommen, zum Beispiel das Acht-mal-zehn-Foto meines runden, lächelnden Gesichts, als ich drei Monate alt war. Andere Bilder hatte ich gemacht, wie das Mädchen mit der Beinprothese, das bei seinem ersten Querfeldeinlauf das Zielband durchriss.
Doch als Ben auf den Tritthocker stieg, fiel mir auf, dass einer der Rahmen zur Seite geschoben war und ein wenig von seinem Platz an der Wand abstand. Das Bild zeigte zwei alte, blinde Phiolen, die halb im Dreck vergraben waren– diese beiden hatten meinen Vater zum Rockstar unter all den New-Age-Jüngern gemacht. Ganze Websites und Fanforen waren diesen Gläschen gewidmet: den uralten Phiolen des Elixirs des Lebens.
Mein Vater hatte die Grabung nach den Phiolen in Auftrag gegeben und finanziert und war persönlich nach Italien geflogen, um die Arbeiten zu beaufsichtigen. Als sie schließlich freigelegt wurden, hatten sogar die Massenmedien von dem archäologisch äußerst bedeutsamen Fund berichtet. Nicht jedoch, ohne prompt hinzuzufügen, dass die Gefäße, auch wenn sie in der Tat uralt waren und genau der angeblichen Beschreibung entsprachen, leer waren. Kein Lebenselixir. Dad machte das nichts aus. Er war begeistert von der Entdeckung und musste Hunderte von Bildern davon gemacht haben, bevor er sie dem Museo Nazionale Romano übergab.
Aber eines dieser Bilder hatte offensichtlich den Zugang zu einem Geheimfach verborgen, das Ben kannte, während ich nicht einmal etwas von seiner Existenz geahnt hatte. Ben zog das kleine Türchen ganz auf und nahm eine Mappe heraus, die aus allen Nähten platzte. Er kam zu mir an den langen Tisch, an dem Dad immer gearbeitet hatte, schob ein paar Dinge beiseite, um Platz zu schaffen, und knallte die Mappe darauf.
Fotos. Die Mappe war mit Bildern vollgestopft.
» Was hat dir dein Dad eigentlich gesagt, warum er mich eingestellt hat?«, fragte er.
» Wegen deines umfassenden Wissens«, erwiderte ich.
» Mein Wissen«, sinnierte er. » Aus diesem Grund hat mich deine Mutter eingestellt. Dein Vater hat sich nicht für mein Wissen interessiert. Er stellte mich dessentwegen ein, was ich nicht weiß… aber woran ich trotzdem glaube.«
» Ich verstehe nicht, was du meinst. Was soll das heißen?«
Ben seufzte und griff sich wieder mit der Hand in die Haare, als wolle er sich die richtigen Antworten aus dem Kopf ziehen. » Es gibt Dinge, die das menschliche Vorstellungsvermögen übersteigen«, sagte er und ich wusste nicht, ob er meinen Vater extra zitierte oder es unbeabsichtigt tat. » Dinge, die wir so akzeptieren müssen, weil wir sie einfach nicht erklären können. Daran hat dein Vater geglaubt und es war ihm wichtig, dass auch ich das so sehe.«
Ich wusste, dass Dad und Ben sich beide für paranormale Phänomene begeisterten. Das war nichts Neues– sie konnten sich die halbe Nacht die Köpfe darüber heiß reden und ich hatte dann immer die Augen verdreht. Doch jetzt sagte Ben, Dad hätte gerade Bens Glauben daran als Voraussetzung für den Job bei uns betrachtet. Das kam mir merkwürdig vor. » Warum?«, wollte ich wissen.
» Damit ich dich beschützen kann«, antwortete er. Er machte die Mappe auf. » Erkennst du das wieder?«, fragte er und wies mit dem Kopf auf das oberste Foto.
» Natürlich.« Es war der Tag, an dem Mom, Wanda, Rayna und ich vor fast achtzehn Jahren aus der Klinik gekommen waren. Wir waren am Empfang auf dem Weg nach draußen: Mom und Wanda in ihren Rollstühlen mit ihren Neugeborenen auf dem Schoß.
» Siehst du die ganzen Leute im Hintergrund?«, fragte Ben.
Ich nickte. Dad hatte selbst zugegeben, dass er zu aufgeregt gewesen war, um den Bildausschnitt perfekt zu wählen. Wir vier befanden uns relativ weit im Vordergrund, der Rest des Bildes war voller Unbekannter.
» Dein Vater hat das Bild vergrößert, um sie genauer unter die Lupe zu nehmen. Er sagte, er hätte nicht gewusst, warum. Es war nur so ein Gefühl.«
Ben zog das nächste Foto heraus. Es war dieselbe Aufnahme, aber die
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