Elke im Seewind
hingeht.“
Katje erwiderte darauf nichts. Er hat nun mal solche Herrin. Sie können es nicht ändern.
Aber da sagt Elke: „Wenn wir abreisen, gehe ich hin zu der Frau. Dann weiß sie, daß wir nicht mehr da sind und daß sie Tapsel ruhig wieder freilassen kann.“
Eine Viertelstunde später haben die Mädel die Windmühle erreicht. Die steht ganz allein am Rande von Feldern im Dünengelände. Sie ist heute in Betrieb. Ihre vier großen Flügel durchschneiden brausend die Luft. Von einem mit zwei kräftigen braunen Pferden bespannten Leiterwagen werden Kornsäcke abgeladen.
Die Mädel stehen auf der Straße und sehen dem Sausen der Flügel zu. „Praktisch eigentlich“, sagt Katje. „So den Wind einfach das Korn mahlen zu lassen.“
Elke bemerkt jetzt auf einer Anhöhe etwas weiter links eine weiße Holzeinfriedigung, ein großes, weißes Holztor eigentlich nur. Das Tor wird überragt von einem Kreuz. Ob das der Friedhof der Heimatlosen ist, von dem Oma Brunkhorst ihnen erzählt hat? Auf dem Friedhof der Heimatlosen werden die Schiffbrüchigen begraben, die irgendwo auf See den Tod fanden und am Strand von Amrum angespült wurden. Niemand kennt ihre Namen und ihre Schicksale, und das Kreuz, das ihre letzte Ruhestätte schmückt, trägt nur das Datum, wann sie aus der See geborgen wurden.
Wenige Minuten später stehen die Kinder vor dem Eingangstor des kleinen Friedhofs. In seinem oberen Balken steht eingeschnitzt.: Es ist noch eine Ruhe vorhanden.
Katje liest laut: „Es ist noch eine Ruhe vorhanden“ und fügt dann hinzu: „Beim lieben Gott — ist damit gemeint.“
„Natürlich“, antwortet Elke.
Als die Kinder dann sehen, daß auf vielen Gräbern Blumen liegen, gehen sie zu einer nahen Düne, um blühendes Heidekraut zu pflücken. Sie wollen auch jede einen Strauß auf ein Grab legen.
Ein Weilchen später leuchten ihre rosenroten Büschel so lieb und hübsch auf den Ruhestätten von zwei der vielen namenlosen Schläfer, und Katje denkt an ihren im Krieg gefallenen Vater. Die Mutter hat nie erfahren, wo er begraben liegt. Ob er wohl auch irgendwo ein Holzkreuz hat, und Fremde legen manchmal Blumen auf sein Grab?
Elkes Gedanken gehen andere Wege. Sie denkt an die Aufschrift oben am Tor. „Es ist noch eine Ruhe vorhanden.“ Wenn die Menschen es in ihrem Leben auch manchmal noch so schwer und traurig gehabt haben, im Himmel haben sie es gut. Aber gilt das nur für Menschen? Es gibt doch auch so viele gute, brave Tiere, die es verdient haben, von all ihren Leiden im Himmel auszuruhen.
Elke weiß nicht, daß sie auf diese Frage niemals eine Antwort finden wird.
Die tiefe Stille, in die bislang nur das Surren der Windmühlenflügel und die gelegentlichen Zurufe der in der Mühle arbeitenden Menschen hineinklang, wird plötzlich von der Fahrstraße her durch lautes Geschimpfe zerschnitten. Das Rasseln eines Wagens wird hörbar. Die Mädel, die sowieso gerade im Begriff sind, den Friedhof zu verlassen, sind neugierig, was da los ist. „Ein Hundefuhrwerk!“ stellt Elke fest und fängt an zu laufen. Sie will wissen, worüber der Mann schimpft. Wenn der Hund vielleicht nicht genug zieht, dann können sie ihm ja helfen.
Nach zwei Minuten haben die Freundinnen das Hundefuhrwerk erreicht. Es besteht aus einem ziemlich großen, zweirädrigen Karren, vor den ein kräftiger, bernhardinerähnlicher Hund gespannt ist. Der Karren ist beladen mit Kästen mit Fischen und muß ziemlich schwer sein. Der Mann, der neben dem Fuhrwerk hergeht, hat ein zerfurchtes, braunrotes Gesicht und graues Bart- und Kopfhaar. Er trägt eine blaugrün schillernde, uralte Baumwolljacke.
„Sollen wir vielleicht ein bißchen ziehen helfen?” fragt Elke.
Der Mann lacht. „Das müßt ihr Hektor fragen. Ich hab’ nichts zu sagen über seinen Wagen. Er zieht heute wie ein Wilder. Ich kann kaum mitkommen. Hier an dieser Stelle geht es bloß ein bißchen bergan, deshalb geht es jetzt langsamer.”
„Ach so“, sagt Elke. .Ich meinte bloß, weil Sie so geschimpft haben.”
„Über Hektor doch nicht!“ weist der Mann diesen Verdacht weit von sich. „Nee, über unsre Alte. Die ist ein Teufel, sag’ ich euch. Ein wahrer Teufel!” Die kleinen, hellen Augen des Alten sprühen erbost.
„Wie schade“, sagt Elke, um irgend etwas zu sagen. „Immer denkt sie sich was Neues aus, um uns zu ärgern“, fährt der Mann fort. In diesem Augenblick ist die Höhe der etwas bergan steigenden Straße erreicht, und Hektor bleibt stehen. Der
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