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Ella und die falschen Pusteln

Ella und die falschen Pusteln

Titel: Ella und die falschen Pusteln Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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leicht erhöhte Temperatur.«
    »Dann sind es wohl die Windpocken«, vermutete der Lehrer.
    »Sehr wahrscheinlich«, sagte die Krankenschwester und schaute zu der Stationstür, an der immer noch das Schild hing, auf dem groß »Windpocken« stand und dass man auf Kinder achtgeben sollte.
    »Na, dann geben Sie mal schön auf die Kinder acht«, sagte der Lehrer und wollte die Tür aufmachen.
    »Augenblick mal!«, sagte die Krankenschwester.
    Der Lehrer erstarrte.
    »Warten Sie, Sie kommen mir bekannt vor ...«
    »Das liegt an meinem Gesicht. Ich werde öfter mit einem Schauspieler verwechselt, ich komme nur gerade nicht auf den Namen«, behauptete der Lehrer.
    Wir wunderten uns, dass uns das noch nie aufgefallen war, aber jetzt sahen wir es ganz deutlich: Unser Lehrer sah ein bisschen wie King Kong aus.
    »Nein, es ist was anderes, und es ist nicht lange her«, sagte die Krankenschwester.
    »Ich arbeite hier«, sagte der Lehrer vorsichtig.
    Das wunderte uns auch. Wir hatten gar nicht gewusst, dass der Lehrer auch noch im Krankenhaus arbeitete.
    »Warten Sie!«, sagte die Krankenschwester und lief ins Schwesternzimmer.
    Der Lehrer sah zur Tür, aber er traute sich anscheinend nicht, zu gehen. Er schaute uns nur an und versuchte zu lächeln. Wir wollten ihn gerade nach dem Kittel fragen, da kam die Krankenschwester zurück.
    »Hier!«
    Die Krankenschwester hielt eine Zeitung hoch und zeigte auf das Titelbild. Wir erkannten sofort den Lehrer, wie er an der Kreuzung beim Bahnhof stand und seine Rede an die Autofahrer hielt. Wir standen hinter ihm und sahen ziemlich komisch aus mit unseren Punkten im Gesicht und den Resten von der Wasserfarbe.
    »Der Mann, der den Verkehr aufhielt«, las die Krankenschwester erst die Überschrift. Dann las sie den ganzen Artikel: »Unser Reporter wurde gestern unverhofft Zeuge eines großen Augenblicks, als ein bisher namenloser Lehrer den Verkehr in der Stadt im wortwörtlichen Sinne anhielt, um seine Zuhörer mitten in der Hektik des Alltags zur Besinnung zu bringen. Dieser mutige Mitbürger stieg vor der großen Kreuzung beim Bahnhof und mitten im dicksten Mittagsverkehr aus seinem Wagen und brachte mit seinen bewegenden Worten noch die abgebrühtesten Herzen seiner Zuhörer zum Schmelzen. Unter den bewundernden Augen seiner Schützlinge sprach er darüber, was wir an unseren Kindern haben, nicht weniger nämlich als die Garanten unserer Zukunft. Es ist eine einfache Wahrheit, an die jedoch immer aufs Neue erinnert werden muss, damit wir nicht achtlos an unserem Glück vorübereilen. Dieser wahrhaft weise Mann hat es getan. Von ihm werden wir noch hören.«
    Die Krankenschwester ließ die Zeitung sinken und sagte: »Sie sind ein Held.«
    »Ich war zufällig zur rechten Zeit am rechten Ort«, sagte der Lehrer bescheiden.
    »Ich wusste gar nicht, dass Sie hier arbeiten«, sagte die Krankenschwester mit glänzenden Augen.
    »Ich auch nicht«, sagte der Lehrer. »Oder … äh … doch, natürlich, allerdings nur vorübergehend.«
    Die Krankenschwester und der Lehrer schauten einander an, und wir rechneten fest damit, dass sie sich gleich küssten wie im Fernsehen. Aber der Lehrer hatte anscheinend andere Pläne.
    »Ich sollte meine Runde fortsetzen«, sagte er.
    »Selbstverständlich«, sagte die Krankenschwester und öffnete ihm die Tür.
    »Danke«, sagte der Lehrer.
    Wir schauten ihm traurig nach, wie er mit wehendem Kittel den Flur entlang und in die Freiheit lief. Wir waren traurig, aber auch ein bisschen besorgt, weil der Oberarzt ja davon gesprochen hatte, dass man ihn im Auge behalten müsse. Wir hätten den Lehrer gern im Auge behalten, aber wir hatten ja Windpocken und mussten noch in Quarantäne bleiben.
    Wir wollten schon in unser Zimmer zurück, als der Lehrer plötzlich stehen blieb. Wir waren gespannt, ob er vielleicht wieder zurückkam, aber er wollte sich nur im großen Flurspiegel betrachten. Er drehte sich im Kreis und machte ein paar Tanzschritte, dann ging er weiter. Aber nach ein paar Schritten kam er zurück, um sich noch mal im Spiegel zu betrachten. Er rückte den weißen Kittel zurecht und war anscheinend so mit seinem Spiegelbild beschäftigt, dass er die Mutter mit dem kleinen Jungen, die inzwischen hinter ihm standen, gar nicht sah. Erst als er sich wieder tänzelnd im Kreis drehte und mit ihnen zusammenstieß, bemerkte er sie.
    »Entschuldigung!«, sagte er.
    »Ich kenne Sie doch«, sagte die Mutter.
    »Eigentlich wollte ich gerade gehen«, sagte der

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