Ellorans Traum
vorerst nur in seinem Beisein zu üben. Das größte Vergnügen bereitete mir meine neuerworbene Fähigkeit, mich mit dem Geist eines Tieres zu verbinden und durch seine Augen zu sehen. Ich war noch nicht in der Lage, das Tierbewußtsein vollkommen zu kontrollieren, wie Julian das so meisterlich beherrschte, aber als unbemerkter Gast eines Falken mitzureisen, während er sich auf seinem atemberaubenden Flug durch die Lüfte schwang, oder mit einer winzigen Maus durch die dunkelsten Winkel der Burg zu huschen – das war spannender als alle Zauber, die ich bisher von Julian gelernt hatte.
Am Nachmittag des Purpurdornfestes – in der trüben Luft lag eine erste Ahnung von Schnee – kämpfte ich mit der Herstellung einer Geistverbindung zu meinem Lehrer. Ich hatte es in den vergangenen Tagen einige Male geschafft, einfache Bilder und einmal sogar einen ganzen Gedankensatz in sein aufnahmebereites Bewußtsein zu senden. Aber noch immer war es vom Zufall bestimmt, wann mir das gelang und wann nicht. Diese Übung war weitaus schwieriger als das Herstellen einer Verbindung mit einem tierischen Bewußtsein. Der Schweiß lief mir bei meinen Bemühungen in Strömen über das Gesicht.
Julian hatte schließlich ein Einsehen und hieß mich abbrechen. »Laß gut sein, Elloran, das führt heute zu nichts mehr. Du strengst dich zu sehr dabei an. Wir werden es morgen wieder versuchen.« Er legte seine knochigen Hände um meine Schläfen und sah mir lange und tief in die Augen. In meinen Ohren klingelte es leise, und mein Blick verschwamm. Julian ließ mich los und seufzte ungeduldig. Er wandte sich ab und hantierte mit einem Becher und einigen Tiegeln und Fläschchen herum. Dann trat er zu mir, den Becher in der Hand, und reichte ihn mir. Ich roch überrascht an dem heißen Tee und sah Julian fragend an. Er lächelte schmal und bedeutete mir, den Becher zu leeren. Folgsam schluckte ich die gallenbittere Flüssigkeit hinunter und wartete auf eine Erklärung für Julians seltsames Betragen.
Er nahm mir den geleerten Becher aus den Fingern und sagte: »Das wird dich entspannen, Elloran. Ich habe nicht gut auf dich aufgepaßt bei unseren Übungen, daher hast du dich zu sehr verkrampft. Aber ich kann dir wenigstens die Kopfschmerzen ersparen, die du sonst heute nacht erdulden müßtest.«
Ich dankte ihm für seine Besorgnis und lief die Treppe hinab und zur Halle, in der Hoffnung, dort noch Nikal auf ein Schwätzchen zu treffen. Er saß mit einigen seiner Männer in der Nähe des Feuers und ließ die Würfel rollen. Ich hockte mich neben ihn und sah zu. Es juckte mich in den Fingern, meine wachsenden Fähigkeiten der Levitation an den Würfeln auszuprobieren – sie besaßen genau die richtige Größe dafür – aber ich dachte an Julians Verbot und verzichtete voller Bedauern darauf. Die Würfel klapperten hohl und rollten über den Tisch – ich hatte plötzlich Schwierigkeiten, ihre Augenzahlen zu erkennen. Die Würfel klapperten wie Knochen; es war unerträglich heiß, so dicht neben dem Feuer. Ich bat um etwas Wasser, und meine Mutter gab mir zu trinken. Die Würfel klapperten und rollten und klapperten und tanzten über eine endlos lange graue Tischplatte. Sie wollten gar nicht mehr zur Ruhe kommen, und Jemaina wischte mir mit einem feuchten Tuch über die Stirn und flößte mir einen übelschmeckenden Absud ein. Die Würfel rollten, das Feuer loderte, und Malima saß neben mir und stopfte dicke Winterstrümpfe. Meine Zähne klapperten wie die Würfel, mir war heiß und kalt zugleich. Mutter beugte sich sorgenvoll über mich. Die Würfel tanzten vor meinen Augen einen wilden Tanz – es waren gar keine Würfel, es waren kleine hölzerne Figuren: ein König, eine Schwertfrau, ein Rabe, ein Narr mit Schellenkappe und spitzen Schuhen – Jemaina schüttelte den Kopf und sagte: »Ich weiß nicht weiter. Ich habe alle Mittel versucht, die das Fieber vertreiben, aber nichts will anschlagen.«
Ich vernahm die Antwort meiner Mutter nicht. Als der Tanz der seltsamen Figuren mich wieder etwas sehen ließ, hatte Jemaina sich wundersamerweise in Julian verwandelt. Seine kühlen Finger hielten meinen Kopf.
»Was können wir tun?« hörte ich meine Mutter fragen.
»Ich habe es erwartet«, antwortete der Magier. »Es war an der Zeit. Du mußt dich jetzt entscheiden, Ellemir.«
»Du weißt, was ich mir wünsche!«
»Dann laß mich jetzt bitte mit ihm allein.« Die Tür klappte, die Figuren schienen mich anzugrinsen, und dann war es für
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