Ellorans Traum
der Wochen meiner Krankheit war ich in die Höhe geschossen. Als ich mich das erste Mal im Spiegel sah, wußte ich nicht recht, ob ich lachen oder weinen sollte – das Lachen lag dann allerdings doch näher. Mich blickte eine zottelige Vogelscheuche an, die rothaarige Zweitausgabe des Magiers Julian: lang und schlaksig und dünn wie ein Grashalm; mit riesigen Augen in einem mageren, bleichen Gesicht. Malima seufzte ergeben, stutzte mir das Haar und ließ die Kammerfrau andere Kleider für mich heraussuchen.
Meine Fieberträume hatte ich beinahe vergessen. Doch eines Morgens erwachte ich mit Tränen auf meinen Wangen und mit der Erinnerung an das Mädchen, das mir so glich wie eine Zwillingsschwester. Die Erscheinung ließ mir keine Ruhe. Ich grübelte über ihre Bedeutung, aber sie ergab keinen Sinn. Endlich faßte ich mir ein Herz und stellte meiner Mutter die Frage, die mir auf dem Herzen lag: »Habe ich eigentlich eine Schwester?«
Kaum waren die Worte heraus, hätte ich mich am liebsten selbst geohrfeigt. Noch plumper hätte ich diese Frage wohl kaum stellen können. Ellemir sah mich an, als traute sie ihren eigenen Ohren nicht.
»Wie kommst du denn auf diese Idee?« fragte sie fassungslos.
»Ich habe es geträumt«, entgegnete ich lahm. Es war zwar die reine Wahrheit, aber ich mußte selbst zugeben, daß es sich seltsam anhörte. Das schien auch Ellemir zu finden, nach ihrem Gesichtsausdruck zu schließen.
»Vergiß diesen Traum«, sagte sie scharf. »Du bist mein einziges Kind, Elloran.« Die Antwort war klar und deutlich, aber sie befriedigte mich nicht. Etwas daran schien nicht zu stimmen. Ich hatte in den letzten Monaten ein feines Gespür dafür entwickelt, wann meine Mutter mich anlog oder mir etwas verschwieg. Ich wollte nicht mehr Elloran heißen, wenn das nicht auch jetzt der Fall war.
Als ich mich einigermaßen sicher auf den Beinen fühlte, bedrängte ich Jemaina, mich aufstehen zu lassen. Sie willigte widerstrebend ein, nachdem ich ihr versprochen hatte, mich nicht zu überanstrengen und regelmäßig bei ihr blicken zu lassen.
Nikal war ehrlich erstaunt, als ich ihn in der Wachstube besuchte. Wir schwatzten ein paar Minuten miteinander, dann entschuldigte er sich, weil er die Wachablösung beaufsichtigen mußte. Ich sah ihm bedrückt nach, als er mit schwerfälligen Schritten den Raum verließ. Wie schon bei seinen Besuchen an meinem Krankenlager schien er mir verändert. Er war im letzten Jahr auf erschreckende Weise gealtert, sein Haar war inzwischen fast vollständig grau, und er hatte erheblich an Umfang zugenommen; aber das alleine war es nicht. Etwas unbestimmbar Fremdes schien unter der vertrauten Oberfläche zu lauern, etwas, das mich zutiefst verstörte.
Nach und nach konnte ich meine üblichen Tätigkeiten wieder aufnehmen. Zwar kostete mich alles noch immer mehr Mühe, als ich gewohnt war, aber die Fortschritte waren dennoch ermutigend. Eine unangenehme Überraschung hielt das Schicksal allerdings noch für mich bereit. Julian hatte seinen offiziellen Unterricht für die Zeit meiner Rekonvaleszenz in den Palas verlegt, um mir die steile Turmtreppe zu ersparen, aber ich brannte vor Ungeduld, endlich auch mit dem anderen, geheimen Teil meiner Schulung fortzufahren. So schleppte ich mich eines Tages unter vielen Atempausen hinauf in seine Stube. Julian war zwar überrascht, erhob aber keinerlei Einwände. Doch wir mußten feststellen, daß meine magischen Fähigkeiten vollständig verschwunden waren. All die mühsam erlernten Formeln und Gesten waren wie mit einem großen Schwamm aus meinem Gedächtnis gelöscht. Julian war darüber ähnlich erschüttert wie ich, meinte aber, das sei wahrscheinlich nur eine vorübergehende Nachwirkung des Fiebers, und meine Fähigkeiten würden früher oder später sicherlich zurückkehren. Ich mußte es ihm wohl oder übel glauben, aber es bedrückte mich trotzdem.
Alles war, wie es immer gewesen war, seit ich denken konnte. Die Burgbewohner gingen ihren winterlichen Beschäftigungen nach: besserten Kleider und Gerät aus, warteten die Waffen, setzten Karren und Wagen instand und kümmerten sich um das Vieh. Wenn dann das kurze Tageslicht schwand, saßen wir um das Feuer, erzählten Geschichten oder lauschten den Liedern. Es wurde gelacht, gestritten, gespielt, gegessen und geschlafen. Der Dunkle Winter war immer eine Zeit der Ruhe und Besinnung gewesen. Die Sturmgeister mochten zwar um die Burg heulen, aber all ihr Wüten konnte gegen die Stärke
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