Eloises Hingabe
Miller? Plötzlich sah er eine kleine, zierliche Frau vor sich, mit vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen. Sie hatte ihn Lucian genannt. Aber wie konnte das sein? Er hatte Eloise heute Morgen zum ersten Mal in seinem Leben gesehen. Woher kannte sie ihn?
Kurzerhand wählte er eine ihm vertraute Nummer.
„Ja?“, erklang Lynns verschlafene Stimme.
„Woher hast du das Buch?“
„Hast du schon mal auf die Uhr gesehen? Es ist fast 2:00 Uhr.“
„Wer hat dieses Buch geschrieben?“, fragte Victor ungehalten.
„Es wundert mich doch sehr, dass du nicht selbst dahinterkommst.“
„Woher kennst du Eloise?“
„Das ist eine witzige Geschichte. Ich war auf Shoppingtour in Paris und sah in einem Café eine junge Frau. Sie gefiel mir, und ich habe meine Chance genutzt. Leider stellte sich heraus, dass Eloise keinerlei lesbische Neigung hat, doch wir sind Freundinnen geworden. Das ist sieben Jahre her.“
„Und wieso kennt sie mich?“
„Eloise kennt dich nicht. Lucian ist der Mann ihrer Träume.“
Dieser Satz stand lange zwischen ihnen. Victor konnte es kaum glauben. Diese kleine, quirlige Frau hatte ihn vom ersten Augenblick an verwirrt. Jetzt ergaben ihre Anspielungen und Gesten einen Sinn. Der rothaarige Kobold spielte mit ihm.
Victor schmunzelte. „Gut! Ich nehme die Herausforderung an.“
„Was? Ich habe dich nicht verstanden“, erklang es aus dem Telefonhörer.
„Das musst du auch nicht. Danke für das Buch. Wir hören später voneinander.“
Er hatte aufgelegt, bevor Lynn etwas sagen konnte, und widmete sich weiter seiner Lektüre.
Eloise stellte einen klebrig-süßen Schokobrownie auf Victors Schreibtisch und eine Kanne Kaffee. Diane hatte sich krankgemeldet, und von der Materialbestellung fehlte jede Spur. Eloise saß an ihrem Schreibtisch, als die Tür aufging und Victor eintrat. Das Lächeln auf ihren Lippen gefror zu Eis, als sie ihn erblickte. Er trug sein langes Haar offen und hatte eine schwarze Jeans und ein dunkelblaues Hemd an. Wortlos sah er aus seinen dunklen Augen auf sie herab. Eloise bekam keinen Ton heraus. Sein Anblick jagte durch ihren ganzen Körper und sammelte sich zu einem schmerzhaften Ziehen in ihrer Mitte.
„Gefällt Ihnen, was Sie sehen?“
In Eloises Ohren begann es, zu summen. Das war jetzt wirklich kein Zufall mehr. Hier stimmte was nicht, und sie wusste auch genau, was. „Ich bring sie um.“
Victor trat ein und machte eine Unschuldsmiene. „Na, so schlecht sehe ich nun auch wieder nicht aus.“
„Nicht Sie. Lynn! Sie hat mir versprochen, Ihnen das Buch nicht zu geben. Wer solche Freunde hat, braucht keine Feinde mehr. Und ich hatte schon das Gefühl, verrückt zu werden. Ich hätte gleich wissen müssen, dass das ein paar Zufälle zu viel sind.“ Ihre Wut bestand aus zwei Teilen. Zum einen war sie auf Lynn wütend. Sie fühlte sich verraten und verkauft. Und dann war da noch die Tatsache, dass sie ihn wirklich mochte. Der Nachmittag mit ihm war angenehm gewesen. Er war nett, aufgeschlossen, intelligent und überhaupt nicht so oberflächlich, wie sie befürchtet hatte. Ganz davon abgesehen, dass sie ihn nicht ansehen konnte, ohne an ihren imaginären Lucian zu denken und sich alle möglichen und unmöglichen Dinge vorzustellen.
Victor kam um den Schreibtisch herum und lehnte sich an die Tischplatte. „Was für Zufälle meinen Sie denn?“
„Nun fragen Sie nicht so scheinheilig. Sie sehen aus wie er, Sie benehmen sich wie er, Sie fahren einen Jaguar und sind dominant.“
Victor beugte sich dicht zu ihr herab. Sein Parfüm stieg ihr in die Nase und vernebelte ihre Sinne. „Zum einen bin ich nicht nur dominant, ich bin Sadist.“ Victor ließ diesen Satz eine Weile im Raum stehen und genoss das Flackern in ihren Augen sichtlich. „Zum anderen habe ich den Roman erst letzte Nacht gelesen. Du kannst mir glauben, ich war ebenso überrascht wie du.“
„Aber wie ist das möglich?“, flüsterte Eloise, in ihrem tiefsten Inneren erschüttert und verunsichert. Er war viel zu dicht bei ihr und viel zu präsent, um nicht real zu sein. Doch er war nur eine Fantasie, ein Hirngespinst ihrer einsamen Nächte.
„Manchmal gehen Wünsche in Erfüllung, mein Engel.“
Abrupt schlug Eloise in der Realität auf. Ihr Buch zu zitieren und gegen sie zu verwenden, war entschieden zu viel.
„Geh!“, presste sie hervor. „Bitte geh! Ich brauche ein paar Minuten für mich.“
Eloise zitterte am ganzen Körper, als Victor die Tür hinter sich geschlossen hatte.
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