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E.M. Remarque

E.M. Remarque

Titel: E.M. Remarque Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Funke Leben
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kann­te
die Stadt nicht an­ders als durch den Sta­chel­draht, und er war nie in ihr
ge­we­sen; aber in den zehn Jah­ren, die er im La­ger zu­ge­bracht hat­te, war sie für
ihn mehr ge­wor­den als nur ei­ne Stadt.
    Im An­fang war sie das fast un­er­träg­li­che Bild der ver­lo­re­nen Frei­heit ge­we­sen.
Tag für Tag hat­te er auf sie hin­un­ter­ge­starrt – er hat­te sie ge­se­hen mit ih­rem
sorg­lo­sen Le­ben, wenn er nach ei­ner Spe­zi­al­be­hand­lung durch den La­ger­füh­rer
We­ber kaum noch krie­chen konn­te; er hat­te sie ge­se­hen mit ih­ren Kir­chen und
Häu­sern, wenn er mit aus­ge­renk­ten Ar­men am Kreuz hing; er hat­te sie ge­se­hen mit
den wei­ßen Käh­nen auf ih­rem Fluß und den Au­to­mo­bi­len, die in den Früh­ling
fuh­ren, wäh­rend er Blut aus den zer­schla­ge­nen Nie­ren piß­te – die Au­gen hat­ten
ihm ge­brannt, wenn er sie ge­se­hen hat­te, und es war ei­ne Fol­ter ge­we­sen, sie zu
se­hen, ei­ne Fol­ter, die zu al­len an­de­ren des La­gers noch hin­zu­ge­kom­men war.
    Dann hat­te er be­gon­nen, sie zu has­sen. Die Zeit war hin­ge­gan­gen, und nichts
hat­te sich in ihr ge­än­dert, ganz gleich, was hier oben ge­sch­ah. Der Rauch ih­rer
Koch­her­de war je­den Tag wei­ter auf­ge­stie­gen, un­be­küm­mert um den Qualm des
Kre­ma­to­ri­ums; ih­re Sport­plät­ze und Parks wa­ren voll fröh­li­chen Tu­mults ge­we­sen,
wäh­rend gleich­zei­tig Hun­der­te von ge­jag­ten Krea­tu­ren auf dem Tanz­bo­den des
La­gers ver­rö­chel­ten – Scha­ren von fe­ri­en­fro­hen Men­schen wa­ren je­den Som­mer aus
ihr in die Wäl­der ge­wan­dert, wäh­rend die Häft­lings­ko­lon­nen ih­re To­ten und
Er­mor­de­ten aus den Stein­brü­chen zu­rück­schlepp­ten; er hat­te sie ge­haßt, weil er
ge­glaubt hat­te, daß er und die an­de­ren Ge­fan­ge­nen für im­mer von ihr ver­ges­sen
wor­den sei­en.
    Schließ­lich war auch der Haß er­lo­schen. Der Kampf um ei­ne Brot­krus­te war
wich­ti­ger ge­wor­den als al­les an­de­re – und eben­so die Er­kennt­nis, daß Haß und
Er­in­ne­run­gen ein ge­fähr­de­tes Ich eben­so zer­stö­ren konn­ten wie Schmerz. 509
hat­te ge­lernt, sich ein­zu­kap­seln, zu ver­ges­sen und sich um nichts mehr zu
küm­mern als um die nack­te Exis­tenz von ei­ner Stun­de zur an­de­ren. Die Stadt war
ihm gleich­gül­tig ge­wor­den und ihr un­ver­än­der­tes Bild nur noch ein trü­bes Sym­bol
da­für, daß auch sein Schick­sal sich nicht mehr än­dern wür­de.
    Jetzt brann­te sie. Er spür­te, wie sei­ne Ar­me zit­ter­ten. Er ver­such­te, es zu
un­ter­drücken, doch er konn­te es nicht; es wur­de stär­ker. Al­les in ihm war
plötz­lich lo­se und oh­ne Zu­sam­men­hang. Sein Kopf schmerz­te, als sei er hohl und
je­mand trom­me­le dar­in.
    Er schloß die Au­gen. Er woll­te das nicht. Er woll­te nichts wie­der in sich
auf­kom­men las­sen. Er hat­te al­le Hoff­nung zer­stampft und be­gra­ben. Er ließ die
Ar­me auf den Bo­den glei­ten und leg­te das Ge­sicht auf die Hän­de. Die Stadt ging
ihn nichts an.
    Er woll­te nicht, daß sie ihn an­gin­ge. Er woll­te wei­ter, wie vor­her,
gleich­gül­tig die Son­ne auf das schmut­zi­ge Per­ga­ment schei­nen las­sen, das als
Haut über sei­nen Schä­del ge­spannt war, woll­te at­men, Läu­se tö­ten, nicht den­ken
– so wie er es seit lan­gem ge­tan hat­te.
    Er konn­te es nicht. Das Be­ben in ihm hör­te nicht auf. Er wälz­te sich auf den
Rücken und streck­te sich flach aus. Über ihm war jetzt der Him­mel mit den
Wölk­chen der Flak­ge­schos­se. Sie zer­fa­ser­ten rasch und trie­ben vor dem Win­de
da­hin. Er lag ei­ne Wei­le so, dann konn­te er auch das nicht mehr aus­hal­ten. Der
Him­mel wur­de zu ei­nem blau­en und wei­ßen Ab­grund, in den er hin­ein­zu­flie­gen
schi­en. Er dreh­te sich um und setz­te sich auf. Er blick­te nicht mehr auf die
Stadt. Er blick­te auf das La­ger, und er blick­te zum ers­ten Ma­le dar­auf, als
er­war­te er Hil­fe von dort.
    Die Ba­ra­cken dös­ten wie vor­her in der Son­ne. Auf dem Tanz­platz hin­gen die vier
Leu­te im­mer noch an den Kreu­zen. Der Schar­füh­rer Breu­er war ver­schwun­den, aber
der Rauch vom Kre­ma­to­ri­um stieg wei­ter auf; er war nur

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