E.M. Remarque
kannte
die Stadt nicht anders als durch den Stacheldraht, und er war nie in ihr
gewesen; aber in den zehn Jahren, die er im Lager zugebracht hatte, war sie für
ihn mehr geworden als nur eine Stadt.
Im Anfang war sie das fast unerträgliche Bild der verlorenen Freiheit gewesen.
Tag für Tag hatte er auf sie hinuntergestarrt – er hatte sie gesehen mit ihrem
sorglosen Leben, wenn er nach einer Spezialbehandlung durch den Lagerführer
Weber kaum noch kriechen konnte; er hatte sie gesehen mit ihren Kirchen und
Häusern, wenn er mit ausgerenkten Armen am Kreuz hing; er hatte sie gesehen mit
den weißen Kähnen auf ihrem Fluß und den Automobilen, die in den Frühling
fuhren, während er Blut aus den zerschlagenen Nieren pißte – die Augen hatten
ihm gebrannt, wenn er sie gesehen hatte, und es war eine Folter gewesen, sie zu
sehen, eine Folter, die zu allen anderen des Lagers noch hinzugekommen war.
Dann hatte er begonnen, sie zu hassen. Die Zeit war hingegangen, und nichts
hatte sich in ihr geändert, ganz gleich, was hier oben geschah. Der Rauch ihrer
Kochherde war jeden Tag weiter aufgestiegen, unbekümmert um den Qualm des
Krematoriums; ihre Sportplätze und Parks waren voll fröhlichen Tumults gewesen,
während gleichzeitig Hunderte von gejagten Kreaturen auf dem Tanzboden des
Lagers verröchelten – Scharen von ferienfrohen Menschen waren jeden Sommer aus
ihr in die Wälder gewandert, während die Häftlingskolonnen ihre Toten und
Ermordeten aus den Steinbrüchen zurückschleppten; er hatte sie gehaßt, weil er
geglaubt hatte, daß er und die anderen Gefangenen für immer von ihr vergessen
worden seien.
Schließlich war auch der Haß erloschen. Der Kampf um eine Brotkruste war
wichtiger geworden als alles andere – und ebenso die Erkenntnis, daß Haß und
Erinnerungen ein gefährdetes Ich ebenso zerstören konnten wie Schmerz. 509
hatte gelernt, sich einzukapseln, zu vergessen und sich um nichts mehr zu
kümmern als um die nackte Existenz von einer Stunde zur anderen. Die Stadt war
ihm gleichgültig geworden und ihr unverändertes Bild nur noch ein trübes Symbol
dafür, daß auch sein Schicksal sich nicht mehr ändern würde.
Jetzt brannte sie. Er spürte, wie seine Arme zitterten. Er versuchte, es zu
unterdrücken, doch er konnte es nicht; es wurde stärker. Alles in ihm war
plötzlich lose und ohne Zusammenhang. Sein Kopf schmerzte, als sei er hohl und
jemand trommele darin.
Er schloß die Augen. Er wollte das nicht. Er wollte nichts wieder in sich
aufkommen lassen. Er hatte alle Hoffnung zerstampft und begraben. Er ließ die
Arme auf den Boden gleiten und legte das Gesicht auf die Hände. Die Stadt ging
ihn nichts an.
Er wollte nicht, daß sie ihn anginge. Er wollte weiter, wie vorher,
gleichgültig die Sonne auf das schmutzige Pergament scheinen lassen, das als
Haut über seinen Schädel gespannt war, wollte atmen, Läuse töten, nicht denken
– so wie er es seit langem getan hatte.
Er konnte es nicht. Das Beben in ihm hörte nicht auf. Er wälzte sich auf den
Rücken und streckte sich flach aus. Über ihm war jetzt der Himmel mit den
Wölkchen der Flakgeschosse. Sie zerfaserten rasch und trieben vor dem Winde
dahin. Er lag eine Weile so, dann konnte er auch das nicht mehr aushalten. Der
Himmel wurde zu einem blauen und weißen Abgrund, in den er hineinzufliegen
schien. Er drehte sich um und setzte sich auf. Er blickte nicht mehr auf die
Stadt. Er blickte auf das Lager, und er blickte zum ersten Male darauf, als
erwarte er Hilfe von dort.
Die Baracken dösten wie vorher in der Sonne. Auf dem Tanzplatz hingen die vier
Leute immer noch an den Kreuzen. Der Scharführer Breuer war verschwunden, aber
der Rauch vom Krematorium stieg weiter auf; er war nur
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