E.M. Remarque
Bratkartoffeln
loszuwerden. Er hatte sie überall gerochen, sogar im Gestank der
Latrinenbaracke. Jetzt war es Speck. Speck mit Spiegeleiern.
Er blickte auf die Nickeluhr, die auf der Erde neben ihm lag.
Lebenthal hatte sie ihm geborgt. Sie war ein kostbarer Besitz der Baracke; der
Pole Julius Silber, der längst tot war, hatte sie vor Jahren ins Lager
geschmuggelt. 509 sah, daß er noch zehn Minuten Zeit hatte; aber er beschloß
trotzdem, zur Baracke zurückzukriechen. Er wollte nicht wieder einschlafen. Man
wußte nie, ob man wieder aufwachen würde.
Vorsichtig spähte er noch einmal die Lagerstraße entlang.
Auch jetzt sah er nichts, was Gefahr bedeuten konnte. Er erwartete es
eigentlich auch nicht. Die Vorsicht war eher die Routine des alten Lagerhasen
als wirkliche Angst. Das Kleine Lager befand sich wegen Dysenterie unter einer
losen Art von Quarantäne, und die SS kam selten herein. Außerdem war die
Kontrolle im ganzen Lager in den letzten Jahren bedeutend schwächer geworden
als früher. Der Krieg hatte sich immer stärker bemerkbar gemacht, und ein Teil
der SS-Leute, die bis dahin nur wehrlose Gefangene heroisch gefoltert und
ermordet hatten, war endlich ins Feld geschickt worden. Jetzt, im Frühling
1945, hatte das Lager nur noch ein Drittel der früheren SS-Truppen. Die innere
Verwaltung wurde schon lange fast ganz von Häftlingen erledigt. Jede Baracke
hatte einen Blockältesten und einige Stubenälteste; die Arbeitskommandos
unterstanden den Kapos und Vormännern, das ganze Lager den Lagerältesten.
Alle waren Gefangene.
Sie wurden kontrolliert von Lagerführern, Blockführern und Kommandoführern; das
waren stets SS-Leute. Im Anfang hatte das Lager nur politische Häftlinge
gehabt; dann waren im Laufe der Jahre gewöhnliche Verbrecher in Mengen aus den
überfüllten Gefängnissen der Stadt und der Provinz dazugekommen. Die Gruppen
unterschieden sich durch die Farbe der dreieckigen Stoffwinkel, die außer den
Nummern auf die Kleider aller Gefangenen genäht waren. Die der Politischen
waren rot; die der Kriminellen grün. Juden trugen außerdem noch einen gelben
Winkel dazu, so daß beide Dreiecke zusammen einen Davidstern ergaben. 509 nahm
den Mantel Lebenthals und die Jacke Josef Buchers, hängte sie sich über den Rücken
und begann der Baracke zuzukriechen. Er spürte, daß er müder war als sonst.
Selbst das Kriechen fiel ihm schwer. Schon nach kurzer Zeit fing der Boden an, sich unter ihm zu drehen. Er hielt
inne, schloß die Lider und atmete tief, um sich zu erholen. Im selben
Augenblick begannen die Sirenen der Stadt.
Es waren anfangs nur zwei. Wenige Sekunden später hatten sie sich vervielfacht,
und gleich darauf schien es, als schrie unten die ganze Stadt. Sie schrie von
den Dächern und aus den Straßen, von den Türmen und aus den Fabriken, sie lag
offen in der Sonne, nichts schien sich in ihr zu regen, sie schrie nur
plötzlich, als sei sie ein paralysiertes Tier, das den Tod sieht und nicht
weglaufen kann; sie schrie mit Sirenen und Dampf pfeifen gegen den Himmel, in dem
alles still war.
509 hatte sich sofort geduckt. Es war verboten, bei Fliegeralarm außerhalb der
Baracken zu sein. Er hätte versuchen können, aufzustehen und zu laufen, aber er
war zu schwach, um schnell genug vorwärts zu kommen, und die Baracke war zu weit;
inzwischen hätte ein nervöser, neuer Wachposten schon auf ihn schießen können.
So rasch er konnte, kroch er deshalb ein paar Meter zurück zu einer flachen
Bodenfalte, preßte sich hinein und zog die geborgten Kleider über sich. Er sah
so aus wie jemand, der tot zusammengebrochen war. Das kam oft vor und war
unverdächtig. Der Alarm würde ohnehin nicht
Weitere Kostenlose Bücher