E.M. Remarque
lange dauern. Die Stadt hatte in
den letzten Monaten alle paar Tage einen gehabt, und es war nie etwas passiert.
Die Flugzeuge waren immer weitergeflogen in der Richtung nach Hannover und
Berlin.
Die Sirenen des Lagers setzten ein. Dann kam nach einiger Zeit der zweite
Alarm.
Das Heulen schwoll auf und ab, als liefen unscharfe Platten auf riesigen
Grammophonen.
Die Flugzeuge näherten sich der Stadt. 509 kannte auch das.
Es rührte ihn nicht.
Sein Feind war der nächste Maschinengewehrschütze, der merken würde, daß er
nicht tot war. Was außerhalb des Stacheldrahtes geschah, ging ihn nichts an.
Er atmete mühsam. Die stickige Luft unter dem Mantel wurde zu schwarzer Watte,
die sich dichter und dichter über ihn häufte.
Er lag in der Bodensenkung wie in einem Grab – und allmählich kam es ihm vor,
als sei es wirklich sein Grab, als könne er nie wieder aufstehen, als sei es
diesmal das Ende, und er würde hier liegen bleiben und sterben, endlich
übermannt von der letzten Schwäche, gegen die er so lange gekämpft hatte. Er
versuchte sich zu wehren, aber es half wenig; er spürte es nur noch stärker,
ein sonderbar ergebenes Warten, das sich in ihm ausbreitete, in ihm und über
ihn hinaus, als warte plötzlich alles – warte die Stadt, als warte die Luft,
als warte selbst das Licht. Es war wie bei einer beginnenden Sonnenfinsternis,
wenn die Farben schon den Hauch von Blei haben und die ferne Ahnung einer
sonnenlosen, toten Welt – ein Vakuum, ein Warten ohne Atem, ob der Tod noch
einmal vorübergehen würde oder nicht.
Der Schlag war nicht heftig; aber er war unerwartet. Und er kam von einer
Seite, die geschützter schien als jede andere. 509 spürte ihn als einen harten
Ruck, tief aus dem Boden gegen den Magen. Gleichzeitig schnitt durch das Heulen
draußen ein hohes, stählernes Sausen, das sich rasend verstärkte, ähnlich dem
Lärm der Sirenen und doch völlig anders. 509 wußte nicht, was früher gekommen
war, der Schlag aus der Erde oder das Sausen und der darauffolgende Krach –
aber er wußte, daß beides noch in keinem Alarm vorher dagewesen war, und als es
sich jetzt wiederholte, näher und stärker, über und unter ihm, da wußte er
auch, was es sein mußte: die Flugzeuge waren zum ersten Male nicht
weitergeflogen. Die Stadt wurde bombardiert.
Der Boden bebte wieder. Es schien 509, als hieben gewaltige unterirdische
Gummiknüppel auf ihn ein. Er war plötzlich ganz wach. Die Todesmüdigkeit war
wie Rauch in einem Wirbelwind verflogen. Jeder Ruck aus dem Boden wurde zu
einem Ruck in seinem Gehirn. Eine Zeitlang lag er noch still – dann, fast ohne
zu merken, was er tat, schob er behutsam eine Hand vorwärts und hob den Mantel
von seinem Gesicht so weit hoch, daß er darunter hinweg zur Stadt hinabspähen
konnte.
Langsam und spielerisch faltete sich unten gerade der Bahnhof auseinander und
hob sich in die Luft. Es sah beinahe zierlich aus, wie die goldene Kuppel über
die Bäume des Stadtparks segelte und hinter ihnen verschwand. Die schweren
Explosionen schienen gar nicht dazu zu gehören – alles war viel zu langsam
dafür, und das Geräusch der Flak ertrank darin wie Terriergekläff im tiefen
Bellen einer großen Dogge.
Beim nächsten mächtigen Stoß begann einer der Türme der Katharinenkirche sich
zu neigen. Auch er fiel sehr langsam und zerbrach während des Fallens
gemächlich in mehrere Stücke – als sei das Ganze eine Zeitlupenaufnahme und
keine Wirklichkeit.
Qualmfontänen wuchsen jetzt wie Pilze zwischen den Häusern empor. 509 hatte
immer noch nicht das Gefühl von Zerstörung; unsichtbare Riesen spielten da
unten, das war alles.
In den unbeschädigten Stadtteilen stieg friedlich weiter der Rauch aus den
Schornsteinen auf; der Fluß
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