E.M. Remarque
Haselnußbusch streifte sie. Sie gingen um ihn herum
und bogen seine Zweige auseinander und fühlten seine Blätter und Knospen. Auch
das war neu. »Komm, jetzt gehen wir nach rechts«, sagte Bucher.
Sie gingen nach rechts. Es schien kindisch, aber es gab ihnen eine tiefe
Befriedigung.
Sie konnten tun, was sie wollten. Niemand befahl ihnen etwas. Niemand schrie
und schoß. Sie waren frei. »Es ist wie ein Traum«, sagte Bucher. »Man hat nur
Angst, daß man aufwacht und daß dann wieder die Baracke und der Ekel da ist.«
»Es ist eine andere Luft hier.« Ruth atmete tief. »Es ist lebendige Luft. Keine
tote.«
Bucher sah sie aufmerksam an. Ihr Gesicht war etwas gerötet, und ihre Augen
glänzten plötzlich. »Ja, es ist lebendige Luft. Sie riecht. Sie stinkt nicht.«
Sie standen neben den Pappeln. »Wir können uns hier hersetzen«, sagte er.
»Niemand wird uns aufjagen. Wir können sogar tanzen, wenn wir wollen.«
Sie setzten sich. Sie betrachteten die Käfer und Schmetterlinge. Im Lager hatte
es nur Ratten gegeben und blauschimmernde Fliegen. Sie hörten das Murmeln des
Baches neben den Pappeln. Er war klar und floß schnell. Im Lager hatten sie
immer zuwenig Wasser gehabt. Hier floß es und wurde nicht gebraucht. Man mußte
sich an vieles neu gewöhnen.
Sie gingen weiter den Abhang hinab. Sie nahmen sich Zeit und ruhten oft aus.
Dann kam eine Mulde, und als sie endlich zurückblickten, war das Lager
verschwunden.
Sie saßen lange und schwiegen. Das Lager war nicht mehr da und auch nicht die
zerstörte Stadt. Sie sahen nur eine Wiese und darüber den weichen Himmel. Sie
fühlten den lauen Wind auf ihren Gesichtern, und es war, als wehe er durch die
schwarzen Spinnweben der Vergangenheit und stieße sie mit weichen Händen fort.
So muß es vielleicht anfangen, dachte Bucher.
Ganz von vorn. Nicht mit Verbitterung und Erinnerungen und Haß. Mit dem
Einfachsten. Mit dem Gefühl, daß man lebt.
Nicht, daß man trotzdem noch lebt wie im Lager. Einfach, daß man lebt. Er
spürte, daß es kein Fortlaufen war. Er wußte, was 509 von ihm gewollt hatte:
daß er einer von denen sein sollte, die durchkommen sollten, ungebrochen, um zu
zeugen und zu kämpfen. Aber er fühlte plötzlich auch, daß die Verantwortung,
die die Toten ihm gegeben hatten, nur dann keine unerträgliche Bürde sein
würde, wenn dieses klare, starke Gefühl des Lebens dazukommen würde und er es
halten könnte. Es würde ihn tragen und ihm die doppelte Kraft geben: nicht zu
vergessen und auch nicht an der Erinnerung zugrunde zu gehen – so wie Berger es
gemeint hatte beim Abschied.
»Ruth«, sagte er nach einiger Zeit. »Wenn man so tief anfängt wie wir, dann muß
doch eigentlich noch eine ganze Menge Glück vor einem liegen.«
Der Garten blühte; aber als sie an das weiße Haus herankamen, sahen sie, daß
hinter ihm eine Bombe eingeschlagen war. Sie hatte den ganzen hinteren Teil
zerstört; es war nur die Fassade, die unbeschädigt geblieben war. Sogar die
geschnitzte Eingangstür war noch da. Sie öffneten sie; aber sie führte auf
einen Schutthaufen.
»Es war nie ein Haus. All die Zeit.«
»Gut, daß wir nicht gewußt haben, daß es zerstört war.«
Sie sahen es an. Sie hatten geglaubt, solange es bestände, würden auch sie
bestehen.
Sie hatten an eine Illusion geglaubt. An eine Ruine mit einer Fassade. Es lag
Ironie darin und gleichzeitig ein sonderbarer Trost. Es hatte ihnen geholfen,
und am Ende kam es nur darauf an. Sie fanden keine Toten. Das Haus mußte
verlassen gewesen sein, als es zerstört wurde. Seitlich, unter Trümmern,
entdeckten sie eine schmale Tür. Sie hing schief in den Angeln, und dahinter
war eine Küche.
Der kleine Raum war nur zum Teil niedergebrochen. Der Herd war unbeschädigt,
und sogar ein paar Pfannen und Töpfe
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