E.M. Remarque
dünner geworden.
Entweder verbrannte man gerade Kinder, oder es war befohlen worden, mit der
Arbeit aufzuhören. 509 zwang sich, das alles genau zu betrachten. Dieses war
seine Welt. Keine Bombe hatte sie getroffen. Sie lag unerbittlich da wie immer.
Sie allein beherrschte ihn; das da draußen, jenseits des Stacheldrahtes, ging
ihn nichts an.
In diesem Augenblick schwieg die Flak. Es traf ihn, als sei ein Reifen von Lärm
gesprungen, der ihn fest umspannt gehalten hatte. Eine Sekunde lang glaubte er,
er habe nur geträumt und wache gerade auf. Mit einem Ruck drehte er sich um. Er
hatte nicht geträumt. Da lag die Stadt und brannte. Da waren Qualm und
Zerstörung, und es ging ihn doch etwas an. Er konnte nicht mehr erkennen, was
getroffen war, er sah nur Rauch und das Feuer, alles andere verschwamm, aber es
war auch egal: die Stadt brannte, die Stadt, die unveränderlich erschienen war,
unveränderlich und unzerstörbar wie das Lager. Er schrak zusammen. Ihm war
plötzlich, als seien hinter ihm von allen Türmen alle Maschinengewehre des
Lagers auf ihn gerichtet. Rasch blickte er herum. Nichts war geschehen. Die
Türme waren leer wie vorher. Auch in den Straßen war niemand zu sehen. Doch es
half nichts – eine wilde Angst hatte ihn jäh wie eine Faust im Genick gepackt
und schüttelte ihn. Er wollte nicht sterben! Jetzt nicht! Jetzt nicht mehr!
Hastig ergriff er seine Kleidungsstücke und kroch zurück. Er verwickelte sich
dabei in den Mantel Lebenthals und stöhnte und fluchte und riß ihn unter seinen
Knien fort und kroch weiter zur Baracke, eilig, tief erregt und verwirrt – als
flüchte er noch vor etwas anderem als nur vor dem Tode.
II
B aracke 22 hatte zwei
Flügel, die je von zwei Stubenältesten kommandiert wurden.
In der zweiten Sektion des zweiten Flügels hausten die Veteranen. Es war der
schmalste und feuchteste Teil, aber das kümmerte sie wenig; wichtig war für sie
nur, daß sie zusammenlagen. Das gab jedem mehr Widerstandskraft. Sterben war
ebenso ansteckend wie Typhus, und einzeln ging man in dem allgemeinen Krepieren
leicht mit ein, ob man wollte oder nicht. Zu mehreren konnte man sich besser
wehren. Wenn einer aufgeben wollte, halfen ihm die Kameraden durchzuhalten. Die
Veteranen im Kleinen Lager lebten nicht länger, weil sie mehr zu essen hatten;
sie lebten, weil sie sich einen verzweifelten Rest von Widerstand bewahrt
hatten. In der Ecke der Veteranen lagen zur Zeit hundertvierunddreißig
Skelette. Platz war nur da für vierzig. Die Betten bestanden aus Brettern, vier
übereinander. Sie waren kahl oder mit altem faulendem Stroh bedeckt. Es gab nur
ein paar schmutzige Decken, um die jedes Mal, wenn die Besitzer starben, bitter
gekämpft wurde. Auf jedem Bett lagen mindestens drei bis vier Menschen. Das war
selbst für Skelette zu eng, denn Schulter- und Beckenknochen schrumpften nicht.
Man hatte etwas mehr Platz, wenn man seitlich lag, gepackt wie Sardinen; aber
trotzdem hörte man nachts oft genug das dumpfe Aufschlagen, wenn jemand im
Schlaf herunterfiel. Viele schliefen hockend, und wer Glück hatte, dem starben
seine Bettgenossen abends. Sie wurden dann hinausgeschafft, und er konnte sich
für eine Nacht besser ausstrecken, bevor neuer Zuwachs kam.
Die Veteranen hatten sich die Ecke links von der Tür gesichert. Sie waren noch
zwölf Mann. Vor zwei Monaten waren sie vierundvierzig gewesen. Der Winter hatte
sie kaputt gemacht. Sie wußten alle, daß sie im letzten Stadium waren; die
Rationen wurden ständig kleiner, und manchmal gab es ein bis zwei Tage
überhaupt nichts zu essen; dann lagen die Toten zu Haufen draußen.
Von den zwölf war einer verrückt und glaubte, er sei ein deutscher Schäferhund.
Er hatte keine Ohren mehr; sie waren ihm abgerissen
Weitere Kostenlose Bücher