E.M. Remarque
Kreuz. Gegenüber war die Tür zu einem
Restaurant. Der Erlöser blickte stumm in den erleuchteten Raum, aus dem
Gelächter und Lärm scholl. Es schien Lillian, als wäre etwas dazu zu
sagen – aber dann war nichts zu sagen. Alles gehörte zueinander.
Sie stand am
Fenster ihres Zimmers. Draußen waren der See, die Nacht und der Wind. Das
Frühjahr rumorte in den Platanen der Piazza und in den Wolken. Clerfayt kam
herein. Er legte den Arm um sie. Sie drehte sich um und sah ihn an. Er küßte
sie. »Hast du keine Angst?« fragte sie.
»Wovor?«
»Daß ich krank
bin.«
»Ich habe Angst
davor, daß mir beim Rennen mit zweihundert Kilometer Geschwindigkeit ein
Vorderreifen platzt«, sagte er.
Lillian atmete tief
auf. Wir sind ja ähnlich, dachte sie. Wir haben ja beide keine Zukunft! Seine
reicht immer nur bis zum nächsten Rennen; und meine bis zum nächsten Blutsturz.
Sie lächelte.
»Es gibt eine
Geschichte«, sagte Clerfayt. »In Paris wurde zur Zeit der Guillotine ein Mann
zur Hinrichtung geführt. Es war kalt und ein weiter Weg. Die Wärter machten
unterwegs halt, um zu trinken. Sie boten die Flasche Wein auch dem Verurteilten
an, nachdem sie getrunken hatten. Der nahm sie, betrachtete sie einen
Augenblick, sagte dann: ›Eine ansteckende Krankheit wird ja wohl keiner von uns
haben‹, und trank selbst. Eine halbe Stunde später rollte sein Kopf in den
Korb. Diese Geschichte hat meine Großmutter mir erzählt, als ich zehn Jahre alt
war. Sie war gewohnt, eine Flasche Calvados am Tag zu trinken. Jeder
prophezeite ihr einen frühen Tod. Sie lebt noch. Die Propheten sind längst tot.
Ich habe aus der Kellerbar eine Flasche von dem alten Champagner mitgebracht.
Man sagt, daß er im Frühjahr stärker schäume als zu anderen Zeiten. Er spüre
das Leben noch. Ich lasse sie Ihnen hier.«
Er stellte die
Flasche auf das Fensterbrett, nahm sie aber wieder weg. »Man soll Wein nicht in
den Mond stellen. Der Mond tötet seinen Duft. Auch das stammt von meiner
Großmutter.«
Er ging zur Tür.
»Clerfayt«, sagte Lillian.
Er drehte sich um.
»Ich bin nicht weggefahren, um allein zu bleiben«, sagte sie.
8
P aris lag mit seinen
Vororten grau, hässlich und verregnet da; aber je weiter sie in die Stadt
kamen, um so mehr begann die Verzauberung. Ecken, Winkel und Straßen tauchten
auf wie Bilder von Utrillo und Pissarro, das Grau wurde bleich und fast
silbrig, der Fluss war plötzlich da mit Brücken und Schleppern und Bäumen mit
Knospen, den bunten Reihen der Bouquinisten und den Quadern der alten Gebäude
am rechten Seine-Ufer.
»Von dort«, sagte
Clerfayt, »hat man Marie Antoinette abgeholt, um sie zu köpfen. Im Restaurant
gegenüber isst man besonders gut. Man kann hier überall Hunger mit Geschichte
verbinden. Wo wollen Sie wohnen?«
»Dort«, erwiderte
Lillian und zeigte über den Fluss auf die helle Fassade eines kleinen Hotels.
»Kennen Sie es?«
»Woher?«
»Aus der Zeit, als
Sie hier lebten?«
»Als ich hier lebte,
wohnte ich meistens im Keller eines Gemüsehändlers versteckt.«
»Wollen Sie nicht
lieber irgendwo im sechzehnten Arrondissement wohnen? Oder bei Ihrem Onkel?«
»Mein Onkel ist so
geizig, daß er wahrscheinlich selbst nur ein Zimmer hat. Fahren wir hinüber und
fragen wir nach, ob dort Zimmer frei sind. Wo wohnen Sie?«
»Im Ritz.«
»Natürlich«, sagte
Lillian.
Clerfayt nickte.
»Ich bin nicht reich genug, anderswo zu wohnen.«
Sie fuhren über die
Brücke des Boulevard St.-Michel in den Quai des Grands-Augustins und hielten
vor dem Hotel Bisson. Als sie ausstiegen, kam gerade ein Hausknecht mit Koffern
heraus. »Da ist mein Zimmer«, sagte Lillian. »Jemand zieht aus.«
»Du willst wirklich
hier wohnen? Einfach nur, weil du das Hotel von drüben gesehen hast?«
Lillian nickte.
»Ich will sogar so
Weitere Kostenlose Bücher