E.M. Remarque
die
Schultern. »Wie Sie wollen. Aber nehmen Sie einen Krankenwagen.«
Wolkow versprach
es. Er wußte, daß er keinen nehmen würde. Sein Respekt vor dem Leben ging nicht
weit genug, um nicht zu wissen, daß zuviel Sorgfalt einen Kranken ebenso töten
konnte wie zuwenig. Lillian als Sterbende zu behandeln würde schlimmer sein als
die Fahrt im Auto zu riskieren.
Sie sah ihm heiter
entgegen, als er zurückkam. Seit die Krankheit sich stärker gezeigt hatte, war
sie heiter geworden – als ob das vage Schuldgefühl, das sie wegen
Clerfayts Tod gespürt hatte, dadurch getilgt worden sei. Der Schmerz um einen
andern, dachte sie mit leichter Ironie, wurde erträglicher, wenn man wußte, daß
man selbst nicht mehr lange zu leben hatte. Selbst das Gefühl der Rebellion
gegen die Krankheit war gewichen seit Clerfayts Tod. Niemand entkam, weder der
Kranke noch der Gesunde, das ergab einen paradoxen Ausgleich.
»Armer Boris!«
sagte sie. »Was hat dir der Arzt gesagt? Daß ich die Reise nicht überstehen
werde?«
»Nichts von alledem.«
»Ich werde sie
überstehen. Schon, weil er das Gegenteil prophezeit. Und ich werde noch länger
leben.«
Wolkow sah sie
überrascht an. »Das ist wahr, Duscha. Ich fühle das auch.«
»Gut. Dann gib mir
einen Wodka.«
Sie hielt ihm ihr
Glas hin. »Was sind wir doch für Schwindler«, sagte sie nach einer Weile. »Wir
mit unseren kleinen Tricks! Aber was sollen wir sonst tun? Wenn man schon Angst
hat, kann man auch ebensogut etwas daraus machen. Ein Feuerwerk oder eine
Spiegelfechterei oder eine kleine Weisheit, die bald schmilzt.«
Sie fuhren an einem
sehr milden, warmen Tag hinauf. Auf der halben Passhöhe kam ihnen in einer
Haarnadelkurve ein Wagen entgegen, der hielt, um sie vorbeizulassen.
»Hollmann!« rief Lillian. »Das ist doch Hollmann!«
Der Mann in dem
anderen Wagen blickt auf. »Lillian! Und Boris! Aber ...«
Hinter ihm hupte
ein ungeduldiger Italiener, der einen kleinen Fiat fuhr und glaubte, der
Rennfahrer Nuvolari zu sein. »Ich parke den Wagen«, rief Hollmann. »Wartet auf
mich!«
Er fuhr ein Stück
weiter, ließ den Italiener vorbei und kam zu Fuß zurück. »Was ist los,
Hollmann?« fragte Lillian. »Wohin fahren denn Sie?«
»Ich habe Ihnen
doch erzählt, daß ich gesund bin.«
»Und der Wagen?«
»Geliehen. Es kam
mir zu albern vor, im Zug zu fahren. Jetzt, wo ich wieder engagiert worden
bin!«
»Engagiert? Von
wem?«
»Von unserer alten
Firma. Sie haben mich gestern angerufen. Sie brauchen noch jemand –«
Hollmann schwieg einen Augenblick. Dann strich er sein Haar zurück. »Torriani
haben sie ja schon; jetzt wollen sie es mit mir dazu versuchen. Wenn es gut
geht, fahre ich bald die kleineren Rennen mit. Dann die großen. Halten Sie mir
die Daumen! Wie schön, daß ich Sie noch gesprochen habe, Lillian!«
Sie sahen ihn noch
einmal von einer höheren Kurve aus, als er wie ein blaues Insekt die Straße
hinunterfuhr, um die Stelle Clerfayts einzunehmen, so wie Clerfayt die Stelle
eines anderen übernommen hatte und ein anderer wieder die Hollmanns einnehmen
würde.
Lillian starb sechs
Wochen später, an einem weißen Sommermittag, der so still war, daß die
Landschaft den Atem anzuhalten schien. Sie starb schnell und überraschend und
allein. Boris war für kurze Zeit ins Dorf gegangen. Als er zurückkam, fand er
sie tot auf ihrem Bett. Ihr Gesicht war verzerrt; sie war während einer Blutung
erstickt, und ihre Hände waren in der Nähe des Halses verkrampft; aber kurze
Zeit später glätteten sich ihre Züge, und das Gesicht wurde schöner, als er es
seit langem gesehen hatte. Er glaubte auch, daß sie glücklich gewesen sei,
soweit man einen Menschen jemals glücklich nennen könne.
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