E.M. Remarque
hatte
schon gelernt, wie moralisch die Polizei in New York für arme Leute ist –
die Huren liefen hier nicht auf den Straßen herum, sie waren nicht an Schirmen
und übergroßen Handtaschen zu erkennen, es gab Telefonnummern, aber das
brauchte Zeit und Kenntnis der Nummern.
»Guten Abend, Felix«, sagte ich. »Ist
Melikow nicht hier?«
»Heute ist Sonnabend«, erwiderte Felix,
»mein Tag.«
Richtig, Sonnabend, auch das noch! Das
hatte ich vergessen. Ein langer, leerer Sonntag lag vor mir, den ich plötzlich
fürchtete. Ich hatte noch etwas Wodka auf meinem Zimmer. Vielleicht auch noch
ein paar Schlaftabletten. Unwillkürlich dachte ich an den dicken Raoul. Noch am
Abend vorher hatte ich mich über ihn lustig gemacht. Jetzt war mir nicht viel
anders zumute.
»Miß Petrowna hat auch gerade nach Herrn
Melikow gefragt«, sagte Felix lässig.
»Ist sie schon weggegangen?«
»Ich glaube nicht. Sie wollte noch ein paar
Minuten warten.«
Natascha Petrowna kam mir im dürftigen
Licht der Plüschbude entgegen. Hoffentlich weint sie nicht wieder, dachte ich
und wunderte mich neuerlich, wie groß sie war. »Müssen Sie wieder zum
Photographen?« fragte ich.
Sie nickte. »Ich wollte noch einen Wodka
trinken, aber Wladimir Iwanowitsch ist heute nicht da. Ich hatte es vergessen,
daß er heute frei hat.«
»Ich habe Wodka«, sagte ich rasch, »ich
kann die Flasche runterholen.«
»Machen Sie sich keine Mühe. Der Photograph
hat mehr als genug. Ich wollte nur hier noch ein bißchen sitzen.«
»Ich hole die Flasche. Es dauert nur eine
Minute.«
Ich lief die Treppe hinauf und öffnete die
Tür. Die Flasche blinkte auf der Fensterbank. Ich sah nicht rechts und nicht
links, nahm sie und zwei Gläser. In der Tür blickte ich mich um. Nichts war zu
sehen. Kein Gespenst und kein Geist. Das Bett schimmerte bleich im Dunkel. Ich
schüttelte den Kopf über mich und ging nach unten.
Natascha Petrowna wirkte anders, als ich
sie im Gedächtnis hatte. Weniger hysterisch und fast amerikanisch. Nur die
rauhe Stimme verriet eine Spur von Akzent, aber eher einen französischen als
einen russischen, soweit ich das beurteilen konnte. Um den Kopf trug sie wie
einen losen Turban ein violettes seidenes Tuch. »Für die Frisur«, sagte sie.
»Wir photographieren Abendkleider.«
»Weshalb sitzen Sie gerne hier?« fragte
ich.
»Ich sitze gerne in Hotels. Es ist nie
langweilig. Leute kommen und gehen. Man begrüßt sich oder nimmt Abschied. Das
sind doch die besten Momente im Leben.«
»Meinen Sie?«
»Es sind die am wenigsten langweiligen. Was
dazwischenliegt ...« Sie machte eine Geste der Ungeduld. »Die großen Hotels
sind alle farblos. Jeder versteckt seine Emotion zu sehr. Man hat das Gefühl,
es liege etwas Abenteuerliches in der Luft, aber man sieht es nie recht.«
»Sieht man es hier?«
»Mehr. Die Leute lassen sich gehen. Ich
auch.« Sie lachte. »Sie haben es gesehen. Außerdem mag ich Wladimir
Iwanowitsch. Er ist wie ein Russe.« – »Ist er denn keiner?«
»Tscheche. Aber er war alles. Früher war
das Dorf, aus dem er kam, russisch, nach 1919 wurde es tschechisch. Dann
deutsch, als die Nazis es nahmen. Jetzt sieht es aus, als sollte es wieder
russisch werden – oder tschechisch. Oder vielleicht amerikanisch?« Sie
lachte und erhob sich. »Ich muß gehen.« Sie zögerte einen Augenblick. »Warum
kommen Sie nicht mit? Haben Sie etwas vor?«
»Nichts. Aber wird mich der Photograph
nicht rauswerfen?«
»Nicky? Welch eine Idee! Da sind eine Menge
Leute. Einer mehr oder weniger macht gar nichts. Ein paar Russen sind auch
dabei. Es ist alles etwas Bohême.«
Ich ahnte, weshalb sie mich mitnahm. Sie
wollte ihr Benehmen vom Anfang wiedergutmachen. Ich hätte eigentlich keine
große Lust gehabt mitzugehen, was sollte ich da schon. Aber heute abend hätte
ich nach allem
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