Email ans Universum (German Edition)
„Realität“
1. Vom Standpunkt der Semantik ist „Realität“ ein multi-ordinales Konzept, da sie auf verschiedenen Abstraktionsebenen verschiedene Bedeutungen besitzt. Auf der untersten Ebene der Abstraktion verweist „Realität“ auf eine unmittelbare sensorische Konsistenz. „Sitzt auf diesem Stuhl dort wirklich ein Känguru?“ könnte dadurch beantwortet werden, dass man einen Gruppenkonsens bildet; oder, falls alle bekifft sind, indem man objektive Beobachter mit objektiven Instrumenten zu Hilfe zieht; usw.
Auf der höchsten Ebene der Abstraktion verweist „Realität“ auf eine logische Konsistenz, dessen Gerüst etablierte wissenschaftliche Fakten und Theorien sind. „Ist Entropie real?“ könnte beantwortet werden, indem man ein bewährtes Buch über Thermodynamik studiert. Zwischen der Ebene des Känguru und der Ebene der Entropie gibt es viele weitere Ebenen der Abstraktion und infolgedessen viele Arten von „Realität“.
Ich nenne dies die semantische Relativität der „Realität“.
2. Jeder Stamm und jedes Volk hat einen eigenen „Realitätstunnel“, eine eigene Weltanschauung oder eine eigene „Landkarte der Realität“. Was für Eskimos „real“ ist, muss für die Zuni-Indianer oder die Kongolesen oder die japanischen Buddhisten oder einen deutschen Geschäftsmann oder einen russischen Kommissar nicht auch „real“ sein. Wenn man mit der naiven Vorannahme durch die Welt reist, dass alle in der gleichen „Realität“ leben, dann wird man zahlreiche peinliche Fehler begehen, massenhaft Leute unabsichtlich beleidigen, aus sich selbst ein brillantes Arschloch machen und allgemein dem weltweiten Glauben Tribut zollen, dass Touristen Gottes Fluch sind, gesendet um die Leute für ihre Sünden zu bestrafen. Zu verstehen, dass jede Kultur und jede Sub-Kultur ihre eigene „Realität“ hat, ist die Voraussetzung für Reife, Feingefühl und ehrliche Toleranz. Anderenfalls wirkt man wie jener Engländer, der davon ausging, dass alle Chinesen Englisch verstehen würden, wenn er nur laut genug schreien würde.
Ich nenne dies den anthropologischen oder kulturellen Relativismus der „Realität“.
3. Jedes Nervensystem kreiert seine eigene „Realität“. Von den Milliarden über Milliarden Energien, die das Zimmer durchziehen, in welchem du dies hier gerade liest, arrangiert dein Gehirn, das 100000000 Prozesse pro Minute ausführt (die meisten dieser Prozesse sind dem Schaltkreis, der Ego genannt wird und den man als „Ich“ wahrnimmt, unbewusst), einige Hundert oder Tausend davon zu einer Gestalt, die du als die „Realität“ des Zimmers erlebst. Um diesen Sachverhalt in meinen Seminaren über Info-Psychologie zu demonstrieren, lasse ich meine Schüler die Eingangshalle zum Seminarraum beschreiben. Niemals werden zwei Personen exakt die gleiche Halle beschreiben.
Oder ich lasse jeden eine Minute lang alles aufschreiben, was er in dem Raum hört. Keine zwei Beschreibungen der Geräusche in dem Raum werden identisch sein. Eine Vielfalt an Chemikalien, die auf das Nervensystem einwirken, oder direkte Gehirnstimulation durch elektrische Impulse oder Yoga würden eine komplett unterschiedliche „Realität“ erzeugen, während man immer noch in „demselben“ Raum sitzt.
Ich nenne dies den neurologischen Relativismus oder die Relativität der wahrgenommenen „Realität“.
4. Zwei Wissenschaftler, die sich mit unterschiedlicher Beschleunigung fortbewegen, können dasselbe Phänomen mit den gleichen exakten Instrumenten messen und völlig verschiedene Werte von dessen Ausdehnung in Raum und Zeit erhalten (Einstein, Allgemeine Relativität ). Auf der Quantenebene werden sowohl die experimentellen Daten als auch die mathematischen Gleichungen, die zu diesen Daten passen, von einer Vielzahl verschiedenartiger philosophischer Realitätstunnel oder „Modelle“ gleichermaßen gut beschrieben. Jeder Versuch, dieses Problem zu umgehen, indem man noch komplexere Instrumente hinzufügt, führt dazu, noch mehr und noch komplexere Instrumente hinzufügen zu müssen, damit die ersten Instrumente beobachtet werden können, und immer so weiter (von Neumanns „Katastrophe des unendlichen Regresses“).
Ich nenne dies die physikalische Relativität oder die Relativität der instrumentellen „Realität“.
Daraus lässt sich die Schlussfolgerung ziehen, dass „Realität“ ein Konzept ist, das von den Theologen entliehen wurde. Diese, mittlerweile bankrott, befinden
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