Emerald: Hörspiel
verstand, warum er das getan hatte, aber sie brachte es nicht über sich. Noch nicht.
Ein paar Schritte entfernt ertönte ein dumpfer Schlag. Emma hörte auf zu weinen. Keiner der drei rührte sich. Lauschend starrten sie in die Dunkelheit.
»Wo sind wir?«, flüsterte Emma.
Wie zur Antwort flammte der Nachthimmel auf und einen kurzen Augenblick zuckte weißes Licht durch den Raum. Kate unterdrückte einen Schrei. Da standen etwa fünfzig Kinder und starrten sie an. Kate sah die Reihen von Betten, die Schatten der Gitter vor den Fenstern, die sich über den Boden erstreckten. Dann erschütterte ein Donnerschlag das Haus, und es wurde dunkel.
Eine Stimme fragte: »Hat jemand ein Streichholz?«
Ein Kratzen, dann flackerte ein Licht auf, und schließlich schimmerte eine Lampe im hinteren Teil des Raums.
»Gib her«, sagte die Stimme, und der kleine Lichtkegel wurde von Hand zu Hand gereicht, erleuchtete ein bleiches Gesicht nach dem anderen, bis es das des Sprechers erhellte.
»Du!«, sagte Emma.
Stephen McClattery trat zu ihnen und hielt die Lampe nah an ihre Gesichter. Er betrachtete sie lange, dann sagte er: »Packt sie.«
Ein Kinderschwarm umringte sie.
»Wartet!«, schrie Kate, als ihr die Arme auf den Rücken gedreht wurden. »Warum machst du das?«
»Wir haben ihn gesehen.« Stephen deutete auf Michael. »Er gehört zur Gräfin.«
»Na und?«, fuhr Emma auf. »Wir nicht!«
»Er ist euer Bruder, oder nicht? Ihr steckt da vermutlich alle mit drin.«
Kate sah, dass die meisten Kinder noch klein waren, nicht älter als sechs oder sieben Jahre. Ihre Gesichter waren wild vor Angst und Erregung.
»Er ist ein Verräter«, behauptete Stephen. »Er hilft ihr.«
»Nein!«, rief Kate. »Er hat einen Fehler gemacht. Das ist alles! «
»Er bleibt trotzdem ein Verräter. Jetzt seid still. Wir müssen uns bereden.«
Er wandte sich von Kate ab und fing an, sich flüsternd mit vier oder fünf Jungen und Mädchen zu unterhalten, die alle etwa in seinem Alter waren. Kate hatte genügend Waisenhäuser kennengelernt, um das Verhalten der Kinder deuten zu können.
Auf sich allein gestellt, erdachten sie sich ihre eigenen Gesetze. Bildeten ihre eigene Gesellschaft. Kate wusste, dass sie keine Angst zeigen durfte. Zeigte sie Angst, war alles verloren.
Stephen McClattery wandte sich wieder den Geschwistern zu.
»Wir haben entschieden. Wir werden ihn hängen.«
»Was?!«
Stephen nickte ernst. »Das macht man so mit Verrätern. Das habe ich in einem Buch gelesen.«
Augenscheinlich waren die anderen Kinder damit einverstanden. Sie fingen an, rhythmisch zu singen: »Hängt ihn auf! Hängt ihn auf!«
»Jemand muss ein Seil besorgen«, sagte Stephen McClattery.
»Wir haben kein Seil«, antwortete jemand.
»Ihr könnt Laken in Streifen reißen«, schlug Emma vor, »und sie dann aneinanderbinden.«
»Emma!«
Emma schaute Kate an und zuckte gleichmütig mit den Schultern.
»Danke«, sagte Stephen McClattery. »Ihr drei, reißt die Laken auseinander.«
Drei Jungen zerrten von einigen Betten die Laken und fingen an, sie in Streifen zu reißen.
»Ihr könnt ihn nicht aufhängen!« Kate wurde immer noch von einem Dutzend Händen festgehalten, und um mit Stephen reden zu können, musste sie quer durch den Schlafsaal schreien. Sie versuchte, nicht in Panik zu geraten, denn sie wusste, dass dies die anderen nur noch aufstacheln würde. Die Meute der Kinder hatte das Kommando übernommen. »Er hat einen Fehler gemacht. Jeder macht mal einen Fehler.«
»Wie wär’s damit?« Ein Mädchen kam mit einer Samtkordel angerannt, die sie von einem der Vorhänge gezogen hatte.
»Ja, das dürfte gehen«, sagte Stephen und knüpfte mit überraschender Geschicklichkeit eine Schlinge. »Bringt ihn her! Und ihr drei könnt aufhören mit den Laken.«
Michael wurde nach vorne gezerrt, sodass er und Stephen in der Mitte standen, von Kindern umringt.
»He, warte mal …« Emma wurde langsam nervös.
»Du bist für schuldig befunden worden, ein Verräter zu sein«, sagte Stephen. »Hast du noch etwas zu sagen?«
Michael weinte. Er murmelte etwas Unverständliches.
»Wie bitte?«
Michael hob den Kopf und schaute Kate und Emma an. »Ich sagte … es tut mir leid.«
Kate wusste, dass ihr Bruder nicht aus Angst weinte. Sie bezweifelte, dass es ihn überhaupt kümmerte, was die anderen mit ihm vorhatten. Seine Tränen galten dem Verrat an seinen Schwestern.
»Tja, das ist nett«, sagte Stephen McClattery. »Aber Regeln sind und bleiben
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