Emerald: Hörspiel
leises Keuchen aus und Abraham legte ihr sofort die Hand auf den Mund. Aber es war zu spät. Die Hexe hatte sie bemerkt.
Oder nicht? Die Sekunden vergingen, und die Gräfin stand einfach nur da, wenige Zentimeter von der Scheibe entfernt, und wandte ruhig den Kopf erst in die eine, dann in die andere Richtung. Da erinnerte sich Kate: Sie war in diesem Zimmer gewesen. An der Wand befand sich ein Spiegel, und zwar genau dort, wo die Gräfin stand. Und als Kate noch mal hinschaute, strich sich die Gräfin übers Haar, drehte sich um und ging weg, augenscheinlich ohne die Kinder gesehen zu haben.
Abraham bedeutete ihnen, weiterzugehen, und sie wollten sich gerade in Bewegung setzen, als im Zimmer der Gräfin jemand zu reden begann.
»Und was wollen Mylady jetzt machen, wenn Eurem untertänigsten Diener die Frage erlaubt ist?« Der grauzahnige Sekretär stand mit gebeugtem Rücken an einem Servierwagen und schenkte eiskalten Wodka in ein Glas. Der gelbe Vogel hockte noch immer auf seiner Schulter.
Auf der anderen Seite des Zimmers ließ sich die Gräfin in einen bequemen Sessel nieder und hob die zierlichen Füße auf einen Schemel.
»Ich werde einen Bericht abliefern. Das hätte ich gleich tun sollen, als die Kinder das erste Mal auftauchten.«
»Ja, natürlich, zweifellos eine weise Entscheidung.« Mit einem tiefen Bückling reichte ihr der Mann das Getränk.
Das Glas, das in die eine Richtung als Spiegel, in die andere aber als Fenster funktionierte, befand sich an der Wand, die derjenigen gegenüberlag, an der die Gräfin saß. Das bedeutete, dass die Kinder im Geheimgang einen guten Blick auf alles hatten, was sich in dem Wohnzimmer abspielte. Es war aufregend, der Gefahr so nah zu sein, besonders weil Kate einfach nicht glauben konnte, dass sie unsichtbar waren. Jedes Mal wenn der Blick der Gräfin über die Wand glitt, musste Kate gegen den Drang ankämpfen, wegzulaufen. Sie war dankbar für das dröhnende Hämmern des Regens, weil sie überzeugt davon war, dass die Gräfin und der Sekretär ansonsten das Hämmern ihres Herzens vernommen hätten.
»Was ist los, du sabbernder kleiner Nager?«, fuhr die Gräfin ihren Sekretär an. »Ich merke doch, dass dir etwas im Kopf herumgeht. «
Händeringend verbeugte sich Cavendish drei- oder viermal schnell hintereinander. »Es ist nur … nein, es ist nicht an mir, das zu sagen …«
»Es ist an dir, zu tun und zu lassen, was ich dir befehle, du Wurm! Also, was geht in diesem eitrigen Gehirn vor?«
Allein mit ihrem Sekretär sah die Gräfin anscheinend keine Veranlassung, sich als charmante Verführerin oder fröhliches Mädchen zu geben. Sie sah so aus wie immer, aber ihr Verhalten,
ihre Stimme, alles an ihr, sprachen von ihrer Macht, ihrer Bosheit und ihrem gierigen, wölfischen Hunger.
Cavendish zog den Kopf ein wie eine Schildkröte. Er sprach leicht keuchend und abgehackt: »Ja, Mylady, und vergebt mir bitte meine Unverfrorenheit. Ich habe mich nur gefragt, was genau Ihr berichten wollt. Dass Ihr eine der Chroniken vom Anbeginn in den Händen hattet und sie wieder verloren habt?«
»Es lag nicht in meiner Macht, das Buch zu kontrollieren. Das weißt du genau.«
»Zweifellos, ja, ganz zweifellos. Euch trifft keine Schuld. Und glücklicherweise« – hier verdrehte Cavendish seine Finger wie einen Korkenzieher und verzog sein Gesicht zu einem schmierigen, verlogenen Lächeln – »glücklicherweise ist unser Meister bekannt für sein Verständnis.«
Ihr Meister? Kate fragte sich unwillkürlich, ob sie sich verhört hatte. Aber nein. Gab es also noch jemanden? Jemanden, der noch schlimmer war als die Gräfin? War das überhaupt möglich? Sie schaute zu Emma und sah, wie diese den Kopf schüttelte und kaum hörbar »Na toll!« hauchte.
»Du denkst also, ich sollte ihm nichts davon sagen«, sagte die Gräfin langsam.
Cavendish trat einen eifrigen Schritt vor. »Das Buch muss ganz in der Nähe sein, Mylady. Das habt Ihr selbst vorhin gesagt. Und jemand, der so dumm und unverständig ist wie ich, weiß, wie viel besser es ist, wenn man sagen kann: ›Hier, Meister, ich habe es!‹, anstatt: ›Nun ja, ich hatte es, aber ich habe es wieder verloren. Hups!‹«
Ihren Wodka schlürfend, legte die Gräfin den Kopf gegen die Rückenlehne des Sessels. »Was du sagst, ist nicht von der Hand zu weisen, Wurm. Also gut. Ich werde warten.«
Der Mann verbeugte sich noch tiefer, als ob »Wurm« für ihn das höchste Kompliment bedeuten würde. Aber trotzdem
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